Vom Sog der Onlinespiele: Gefangen im Reich der Fantasy

Noch sind sich Forscher uneins darüber, ob Online-Rollenspiele schädlich sind - aussagekräftige Studien fehlen. Die Frage ist: Was war zuerst da, das Realitätsdefizit oder das Spiel.

Schöner als draußen: Counter-Strike. Bild: screenshot counterstrike

Auch wenn es leise geworden ist um Second Life: Nach wie vor tummeln sich zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene in virtuellen Parallelwelten, in Online-Rollenspielen wie World of Warcraft, Final Fantasy oder Counter Strike. Die Zahl der Rollenspieler verdoppelt sich alle zwei Jahre, weltweit sollen es 15 Millionen sein, allein in Deutschland eine Million. Nicht nur die Jugend ist fasziniert - auch zahlreiche Dreißigjährige klinken sich gerne in ihrer Freizeit in das zweite Leben ein.

Ins Bewusstsein der Gesellschaft dringt diese Entwicklung dann mit aller Macht, wenn etwa ein Jugendlicher Suizid begeht, nachdem seine Fantasy-Figur niedergestreckt wurde, wenn einer nach dem Counterstrike-Spiel durchknallt und in der Schule Amok läuft oder wenn ein Junge nach nächtelangem Gaming tot vom Stuhl kippt.

Wo hört diese Art der Mediennutzung auf, Kulturtechnik zu sein, und wo fängt sie an, gefährlich, zur Sucht zu werden? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, initiierten Ende April einige Parlamentarier im Bundestag eine Anhörung zum Thema "Online-Sucht".

Dort berichtete Gabriele Farke vom "Verein Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige", dass etwa 9 Prozent der Spieler als "süchtig" einzustufen seien. Eine Untersuchung von Olgierd Cypra, angehender Wissenschaftler an der Universität Mainz, aus dem Jahr 2005 liefert ähnliche Zahlen. Demnach beläuft sich die durchschnittliche Spieldauer von Online-Spielen auf 25 Stunden pro Woche. 65 Prozent zählten zu den Normalspielern (weniger als 29 Stunden), 30 Prozent zu den Vielspielern (30 bis 59 Stunden), und 6 Prozent wurden den Hardcore-Spielern zugeordnet (mehr als 60 Stunden). Unter den Normalspielern fanden sich nur 3 Prozent Arbeitslose, bei den Hardcore-Spielern war hingegen jeder Vierte ohne Arbeit. Die Bildung der Studienteilnehmer lag insgesamt aber über dem Bundesdurchschnitt. 20 Prozent der Befragten betitelten sich sogar selbst als "süchtig", was auf den massiven Leidensdruck vieler Spieler hindeutet.

Doch mit dem Wort "Sucht" tut man sich im Fall der Online-Spiele schwer, vor allem auch, weil das Feld von Psychologen und Hirnforschern bislang viel zu wenig Beachtung findet. "Es besteht ein extrem dringlicher Forschungsbedarf", so resümierte Raphael Gassmann von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Man beobachtet zwar, dass immer mehr Jugendliche Online-Spielen verfallen und zwar vor allem den Massively Multiple Online Role-Playing Games (MMOPRGs) wie World of Warcraft. Unklar ist jedoch, ob diese ein eigenes Suchtpotenzial aufweisen oder ob die Onlinesucht wie bei anderen Abhängigkeiten nur Folge bereits bestehender psychischer Probleme wie Depressionen oder Sozialphobien ist. Die Frage lautet also: Was war zuerst da, ein Realitätsdefizit oder das sogausübende Computerspiel, das schließlich zum Realitätsverlust und anderen Malaisen führt?

Wissenschaftler der Universität Mainz haben 2007 mittels EEG-Studien herausgefunden, dass das Gehirn exzessiver Computerspieler wesentlich stärker auf computerspielassoziierte Reize reagierte, als dies bei Gelegenheitsspielern der Fall war. "All das, was ein Jugendlicher beim Computerspielen erlebt, verändert sein Gehirn auf fatale Weise", so erklärt der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther in dem Buch "Computersüchtig" (Walter Verlag, 2006), das er gemeinsam mit dem Kindertherapeuten Wolfgang Bergmann verfasst hat. Schließlich befinde sich das Gehirn noch in der Entwicklungsphase. Und je länger ein Jugendlicher vor dem Computer verharre, lediglich Tastatur oder Joystick betätigt und vor allem visuellen Reizen folgt, desto stärker würden die entsprechenden Nervenstrukturen im Gehirn "gebahnt".

Auch in Befragungen der Universität Mainz berichteten Hardcore-Spieler von deutlichen Suchtsymptomen, wie unkontrolliertem Spielverhalten, Entzugserscheinungen oder fortschreitender sozialer Isolation. Trotzdem gilt das Phänomen noch nicht als "Sucht" in der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen. Eine Tatsache, die die Behandlung erschwert, etwa weil sie nicht von den Kassen bezahlt wird. Dass die Computersucht existiert, wird von den meisten Experten heute nicht mehr bestritten. Zu stark häufen sich die Fälle in psychotherapeutischen Praxen und Ambulanzen.

Was Onlinespiele so faszinierend macht, haben Kulturwissenschaftler um den Wiener Philosophen Claus Pias kürzlich in dem Buch "Escape" (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums 2007) zusammengetragen. Zentrale Motivation ist das Flow-Erlebnis. Denn: Der Computer reagiert auf das Können des Spielers mit einer Steigerung des Schwierigkeitsgrades. Im Gehirn werden dabei frontale Regionen deaktiviert, während mit dem Selbst in Verbindung stehende Bereiche aktiviert werden - ein Zustand ähnlich dem von ZEN-Meditierenden oder von Sportlern. Ebenso wichtig ist auch das Verlangen, Meisterschaft zu erringen.

Wer nun aber psychisch instabil ist, für den wird das virtuell Erlebte zum Verhängnis. Er kann das Spiel nicht mehr zu den sozialen Beziehungen der realen Welt ausbalancieren. Er spielt nicht ergänzend zur Wirklichkeit, sondern sucht Kompensation. Verschlimmernd kommt hinzu, dass zahlreiche Spiele auch das Vielspielen provozieren, weil nur erfolgreich sein kann, wer möglichst oft online ist. Wer lange nicht spielt, bekommt etwa "Ehrenpunkte" abgezogen. Es kommt darum zum "Powergaming-Verhalten". Nachts wird dann der Wecker gestellt, weil der nächste "Quest" ansteht; eigene soziale Kontakte schrumpfen, ständig überlegt man neue Spielzüge, was zu Unkonzentriertheit in Job und Privatleben führen kann.

Virtuelle Spielgemeinschaften werden so zur virtuellen Heimat, obwohl das Spielen irgendwann keinen Spaß mehr macht, also trotz erhöhter Dosis keine Befriedigung mehr bringt. Die Spieler schlafen kaum, essen und trinken nicht mehr genug, brechen oft jeden Kontakt zur Familie ab. So erging es etwa Christine und Christoph Hirte, die ihren Sohn "ans Internet verloren haben" und darum die Elterninitiative www.rollenspielsucht.de ins Leben gerufen haben.

Doch ist die virtuelle Welt schuld an dieser Entwicklung? Wolfgang Bergmann ist vom Gegenteil überzeugt: "Abhängig wird niemand, weil es Computerspiele gibt, sondern weil sich mithilfe dieser Spiele Bedürfnisse befriedigen lassen, die eigentlich auf andere Weise gestillt werden müssten."

Olgierd Cypra kommt in seiner Studie hingegen zu dem Schluss, dass man derzeit nicht sagen kann, ob die Onlinespiele ursächlich für eine Abhängigkeit seien. Hardcore-Spieler sind zwar häufiger unzufrieden mit ihrem Privatleben oder sehr schüchtern. Sie gehen neben dem Online-Rollenspielen nicht vielen andere Freizeitbeschäftigungen nach und ihnen wird von der Online-Community mehr Respekt entgegengebracht als von der ersten Welt. Niemand weiß jedoch, ob diese Realitätsdefizite schon vorher da waren.

Der Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer sieht sogar eindeutig einen Zusammenhang zumindest zwischen Gewaltspielen wie Counterstrike und einer erhöhten Gewaltbereitschaft sowie einer Abstumpfung gegenüber Gewalt in der realen Welt.

Obwohl vieles noch ungeklärt ist, ist man bereits auf der Suche nach Abhilfe. Die Arbeitsgruppe für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag kam etwa zum dem Schluss, dass vor allem eine bessere Medienkompetenz und eine bessere Aufklärung und Kontrolle durch Eltern gefragt sind. Eltern sollten also mitspielen, um die Spiele besser einschätzen zu können.

Bergmann und Hüther glauben, dass man ganz woanders ansetzen müsse. Kinder müssten wieder öfter über sich hinauswachsen, damit sie nicht dem Computer verfallen. Man muss sie fordern, anstatt zu überfordern, ihnen mehr zutrauen. Ihnen eben genau das geben, was ihnen das Computerspiel bietet: klare Regeln, eigenständige Entscheidungen und Erfahrungen, Abenteuer mit anderen und Erfolgserlebnisse.

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