Vor der Abstimmung über den Brexit: Ein Besuch im Hotspot Dover

Menschen und Waren haben die Hafenstadt reich gemacht. Doch weder Migranten noch die EU sind in Dover derzeit willkommen.

Demonstranten tragen Trommeln und Fahnen mit sich

Rechtsradikale Anhänger der „Allianz Süd-Ost“ demonstrieren gegen Einwanderer Foto: imago

DOVER taz | Ohne Ende fahren Autos und Lastwagen durch die kleine Hafenstadt Dover, jenem Fleck Großbritanniens, der „dem Kontinent“, wie viele Briten sagen, am nächsten liegt. Viele der rund 112.000 Bewohner Dovers fühlen sich durchaus als Insulaner. Und doch ist die Beziehung zum anderen Ende des Ärmelkanals gerade hier geschichtlich markant.

Schon in der Steinzeit lebten Menschen hier. Und auch alle Eroberer wie die Römer oder später der Normanne William der Eroberer kamen über Dover. Das dunkelbraune Kastell Dover über den weißen Klippen galt als Bollwerk gegen Napoleon und gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Die durch Hafen, Tourismus und den Durchgangsverkehr relative reiche Stadt, 130 Milliarden Euro fließen pro Jahr in die Kassen, ist seit den späten 80er Jahren im wirtschaftlichen Niedergang. Zuerst schlossen die Kohlebergwerke, dann kam das Ende der Hovercraft Ära und 2007 zog die Armee nach 1.000-jähriger Präsenz aus Dover ab.

Zur gleichen Zeit reisten Migranten der Neuzeit ein. Zuerst waren es Bosnier, dann Polen, Slowaken und Rumänen. Dazu kamen Eritreer, Syrer und andere Flüchtlinge, die sich oft in Lastwagen vom Kontinent verstecken. Wie am Wochenende kam es auch schon im Januar deshalb zu Auseinandersetzungen zwischen „Sieg Heil!“ grölenden Neonazis und Antifaschisten in Dover.

Viele Vorurteile und Vorhaltungen

Auf dem Spielplatz neben dem Stadtzentrum sind sich Supermarktassistentin Katie Brian, 31, und ihre nicht arbeitende Freundin, 24, Mutter von vier Kindern, einig: „Großbritannien ist kein Platz für Einwanderer.“ Sie erzählen von Obdachlosen und einem Gesundheitssystem in Schwierigkeiten. Ein alter Soldat hätte keine Unterkunft bekommen. „Aber die Immigranten, die kriegen sofort Wohnungen“, glauben sie zu wissen.

Das Wenige, das wir haben, sollten wir für uns selbst nutzen“, folgern sie. Eine andere Mutter behauptet, dass in manchen Schulen ein Drittel der Kinder Migranten seien und dass dies die Schulerfolge gefährde. Deswegen würden sie und andere beim Referendum gegen die EU stimmen.

Am 23. Juni 2016 entscheiden die WählerInnen Großbritanniens in einem Referendum über ihren Verbleib in oder ihren Austritt aus der EU. Der Ausgang dieses Referendums wird erhebliche Auswirkung auf das Land haben. Die Vorhersagen geben derzeit keine klare Tendenz vor. Viele WählerInnen sind unentschlossen. In einer losen Serie bis zum Juni veröffentlicht die taz Stimmungsbilder. Bisher gab es Folgen aus Dover, Wales, Cornwall.

Auch ein 68-jähriger Mann, er will seinen Namen nicht nennen, begleitet von einem deutschen Schäferhund, antwortet mit einem klaren „Out“, bevor er weiterfährt, dass es doch nicht rassistisch sei, zu sagen, dass man unter seinesgleichen leben will. „Ich will, dass Großbritannien unabhängig ist, ohne Diktat ungewählter europäischer Bürokraten.“ Dann erzählt er Anekdoten über seinen Großvater, der gegen die Zulu in Südafrika kämpfte. Dem folgen Ausführungen über „die Natur der Afrikaner“.

Die 47 Jahre alte Tina Harrison will für den Verbleib in der EU stimmen. Es hätte zu viele Nachteile, unabhängig zu werden, glaubt sie. Doch auch sie erzählt, wie sie von einer Freundin gehört hätte, dass man in einer Schule die englischen Kinder dazu anhalte, den Migranten Englisch beizubringen. Das sei nicht richtig, weil es die Einheimischen vom Lernen abhalte.

Seltsam klingen diese Bemerkungen, wenn man bedenkt, dass bei der letzten Volkszählung im Jahr 2011 nur 3,4 Prozent der Einwohner nicht Englisch als Hauptsprache angaben, 92,7 Prozent in Großbritannien geboren wurden und 96,7 Prozent vom statistischen Amt als weiß bezeichnet werden. Wenig spricht dafür, dass die Zahl der Immigranten die unterstellten Dimensionen erreicht.

Geschäftsleute eher gegen den Brexit

Der Ladenbesitzer Mark Whibley, 40, glaubt, dass die Immigranten am wirtschaftlichen Niedergang der Stadt schuld seien. Steven Compton, 54, dem das Geschäft für Tiernahrung in der Hauptstraße gehört, ist der gleichen Meinung. „In den 60er Jahren haben sie sich beschwert, als die Leute aus der Karibik kamen. Tatsächlich wollten viele Engländer die Arbeit nicht machen, die die Menschen aus den West Indies annahmen“, meint er. Das sei auch heute so. Beide Ladenbesitzer wollen in der EU bleiben.

Trotz all der Beschimpfungen will kein Migrant zugeben, dass sie tatsächlich Rassismus im Alltag erlebt hätten. Der Italiener Michael Teglia, 39, meint, Engländer hätten höchstens mit ihm darüber „gewitzelt“, aber er glaubt, sie hätten es nicht ernst gemeint.

Katie Brian, 31 Jahre

„Aber die Immigranten, die kriegen sofort Wohnungen“

Der 26-jährige Pole Filip Bartosik klagt eher über die viele Arbeit. „In Großbritannien müssen wir viele Stunden arbeiten. In Polen zwar auch, aber wir haben mehr Freizeit. Hier ist alles auf Arbeit fokussiert.“ Er denkt darüber nach, bei einem Austritt aus der EU nach Polen zurückzugehen.

Was aus der geplanten Renovierung des Westhafens in Dover nach einem EU-Austritt werden soll, ist nicht klar. Die EU hat für die Erneuerung der Hafenanlagen in Calais und Dover Subventionen in Höhe von 143 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Vielleicht wehen nicht zuletzt deshalb europäische Fähnchen in Dovers Fußgängerzone.

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