Vor der Berliner Landtagswahl: Die Stadt der Fahnenflüchtigen

Am Wochenende entscheidet Berlin über seine künftigen Machthaber. Viele machen dabei nicht mit. Bekenntnisse einer Zwangs-Nichtwählerin.

Was macht den Berliner zum Wähler? Dieser Blick allein scheint nicht zu reichen. Bild: promo

1 - Meine Freunde in dieser Stadt sind Nichtwählerinnen, sind Fahnenflüchtige, sie bleiben den Urnen fern oder nähern sich ihnen nur zögerlich, zeichnen ungültige Kreuze auf ihre Zettel, sie haben sich in Frankfurter Hörsälen über die Verhältnisse informiert und seither keine Kabine mehr betreten, sie lachen heimlich über die Plakate, die krumm von den Laternen hängen.

Andere studieren Zeitungen und Pamphlete genau und ernsthaft, aber sie warten vergeblich auf den Brief mit der Aufschrift "Wahlbenachrichtigung", denn sie sind ausgewandert und umgezogen, sind über die Grenzen nach Deutschland gekommen und haben dabei ihr Wahlrecht zu Hause gelassen.

Auch ich habe - als sogenannte Drittstaatsangehörige - noch nie eine Berliner Wahlkabine mit meinen eigenen Augen gesehen, Björn Eggert, mein Kreuzberger Kandidat für das Abgeordnetenhaus, der mir täglich vom Laternenpfahl her zulächelt, wenn ich die Tür aufstoße und auf die Straße stolpere, scheint nicht zu wissen, dass ich ihn auch dann nicht wählen könnte, wenn ich wollte.

Sieben Landtagswahlen gibt es 2011. Die taz hat AutorInnen gebeten, uns jene Regionen literarisch nahezubringen, aus denen sie stammen oder in denen sie leben. Am 17. 3. schrieb die Schriftstellerin Annett Gröschner über Sachsen-Anhalt, am 23. 3. befasste sich der Krimiautor Wolfgang Schorlau mit Baden-Württemberg, am 25. 3. brachte tazzwei/Medien-Redakteur Arno Frank uns Rheinland-Pfalz näher, am 20. 5. der Satiriker Osman Engin Bremen und am 31. 8. erklärte der Schriftsteller Bernd Melzer, wo Mecklenburg-Vorpommern liegt. Der heutige Text der Kelag-Preisträgerin Dorothee Elmiger zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 18. 9. ist der letzte dieser Reihe.

Als unfreiwillige Nichtwählerin befinde ich mich in guter Gesellschaft: Jede siebte in Berlin wohnhafte Person ist von der kommenden Wahl zum Abgeordnetenhaus ausgeschlossen, dazu kommen jene Tausende, die weder registriert noch gemeldet, aber doch anwesend sind in dieser Stadt.

2 - Auf Seite 16 des Berichts B VII 2-1-5j/11 des Amts für Statistik finde ich die entsprechenden Zahlen: 3.387 562 melderechtlich registrierte EinwohnerInnen lebten Ende letzten Jahres in Berlin, davon 457.806 AusländerInnen. Auf Seite 5 die Erläuterung dazu: Ausländer: Personen mit ausschließlich ausländischer oder ungeklärter Staatsangehörigkeit und Staatenlose.

Außerdem, schreibt das Amt für Statistik, sind im vergangenen Jahr jeden Monat zwischen 9.614 und 16.266 Menschen nach Berlin gezogen, ähnlich viele haben die Stadt wieder verlassen. Sechzehntausend Klingelschilder neu beschriftet, zehntausendmal Vorhänge abgenommen, Taschen gepackt, ein Koffer noch in Berlin und ein Koffer schon anderswo.

3 - Ich sende eine Nachricht an Aydin Akin, den stadtbekannten Fahrradfahrer, der seit Jahren mit Megafon, mit Trillerpfeife und beschrifteten Tafeln behängt durch die Straßen fährt und für das Wahlrecht der AusländerInnen kämpft. Er antwortet postwendend, er sei im Urlaub, schreibt er, und melde sich, sobald er wieder zurück sei. Auch er: mit einem Koffer verreist, vorübergehend.

4 - Eine Stadt also, in der jeden Tag mehrere hundert Leute eintreffen, ankommen und ein Zimmer beziehen, in der ebenso viele wiederum ihre Koffer packen und wegziehen, ihre Schlüssel übergeben oder in einen Briefkasten werfen, in der sich Durchreisende und Alteingesessene, Touristinnen und Eingewanderte Tag für Tag auf den Bahnsteigen, den Ausfahrten und Kreuzungen begegnen. Hier fällt es schwer, ein Konzept zu verstehen, welches das Wahlrecht an die deutsche Staatsbürgerschaft koppelt.

Anders: Wenn es Bewegung ist, die die Stadt auszeichnet und prägt, das Pendeln zwischen den Orten (und allein die Fahrt von Stadtteil zu Stadtteil würde andernorts bereits eine Reise bedeuten, eine kleine zumindest) - wer sind dann die BerlinerInnen? Jene, die höchstpersönlich in der Charité entbunden wurden, jene, die schon einmal längere Zeit im Wartesaal des Bürgeramts gewartet haben, jene womöglich, deren Eltern zumindest die Wende miterlebt haben, die Berliner Bier trinken und ein Berlin-Fähnchen vors Fenster gehängt, die ihre Steuern entrichtet haben?

Oder: Wer ist anwesend und wer ist gerade oder schon wieder weg? Wer spricht welche Hauptstadtsprache? Mit welchen Argumenten wird jenem Teil der Berliner Bevölkerung, der über keinen deutschen Pass verfügt, heute noch das Wahlrecht vorenthalten? Und was bedeutet es für eine Stadt, wenn fast eine halbe Million ihrer EinwohnerInnen an politischen Entscheidungen nicht teilhaben können?

5 - Tatsächlich würde sich vielleicht nicht viel ändern, würde das Wahlrecht ausgeweitet, denke ich, als ich durch die Statistik-Berichte blättere, durch die Straßen gehe. Die Wahlplakate sehen sich verdächtig ähnlich. Die grüne Bürgermeisterkandidatin Renate Künast fordert mehr Polizei. PolitikerInnen wechseln mehr oder weniger unvermittelt die Parolen und die Seiten - so der ehemalige CDU-Abgeordnete René Stadtkewitz, der mit seiner rechten Partei "Die Freiheit" dieses Jahr zum ersten Mal an der Wahl zum Abgeordnetenhaus teilnimmt.

Die zur Wahl stehenden Parteien scheinen kaum Alternativen zueinander zu bieten - gerade weil sie sich zur Wahl stellen und so auf grundsätzlichere Kritik an der bestehenden Ordnung verzichten, weil sie spätestens nach der Wahl gezwungen sind, sich mit den realpolitischen Verhältnissen zu arrangieren. Kurzum: Der Staat der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht der Sitz von Macht, sondern ein Ausdruck dahinter liegender gesellschaftlicher Machtverhältnisse, das steht auf keinem Wahlplakat.

6 - Darja Stocker, eine junge Dramatikerin, deren Stücke in Berlin zuletzt am Maxim Gorki Theater gespielt wurden, lebt seit sechs Jahren in Berlin und ist ebenfalls "Drittstaatsangehörige". Ihre Zeilen erreichen mich aus Frankreich, auch sie: unterwegs. "Ich würde auf jeden Fall wählen gehen, wenn ich könnte", schreibt sie, "auch wenn ich persönlich mehr an den außerparlamentarischen Protest glaube. Kein Wahlrecht zu haben, das heißt auch, sich nicht verantwortlich fühlen zu dürfen dafür, was um einen herum passiert."

7 - Die Polizei vermeldet das Anzünden von Wahlplakaten in den Nächten, überhaupt die Beschädigung derselben überall, im Kronprinzessinnenweg in Wannsee, in Rummelsburg, in der Wichertstraße, in der Lichtenberger Treskowallee, und am Tempelhofer Damm, in Neukölln und in Prenzlauer Berg hatten sie sich heimlich zu schaffen gemacht: ein 49-Jähriger und seine 47-jährige Komplizin, zwei junge Frauen im Alter von 17 und 23 Jahren, eine etwa sechsköpfige Personengruppe, außerdem: drei Männer im Alter von 22 und 23, mehrere Unbekannte, zwei Männer auf Fahrrädern, vier Heranwachsende, fünf Personen ohne nähere Angaben, zwei Alkoholisierte und ein weibliches Trio im Alter von 18, 19 und 21 Jahren.

8 - Am 1. September 2011 wähle ich dann doch. Die Wahlurne steht am Fenster einer Buchhandlung in Mitte: Hier können die Personen mit ausschließlich ausländischer oder ungeklärter Staatsangehörigkeit und Staatenlose ihre Stimme abgeben, ähnliche Urnen stehen an über siebzig Orten in der Stadt, eine Initiative von "Citizens For Europe e. V." und dem Verein "Jede Stimme". Es kämen täglich etwa zwei Dutzend Wähler und WählerInnen vorbei, sagt der Buchhändler und streckt zum Abschied noch die Faust in die Luft, ich glaube, er hofft auf einen guten Ausgang dieser symbolischen Wahl.

Vorerst bleibt sie jedoch Behauptung - auch wenn, zwölf Tage vor der offiziellen Wahl, dann vorläufige Ergebnisse verkündet werden können: Die SPD hat 38 % der Stimmen für sich gewonnen, gefolgt von den Grünen mit 25,9 % und der Linkspartei mit 11,8 %. Die Inszenierung dieses demokratischen Akts unterscheidet sich also womöglich gar nicht so sehr vom Spektakel der "echten" Wahlen. Und wird sie oft genug wiederholt, werden die symbolischen Urnen vielleicht irgendwann durch ganz offizielle ersetzt.

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