Ein Briefumschläg der Agentur für Arbeit wird einer Person übergestülpt, die eine blaue Handtasche hinter sich herzieht

Wird in Zukunft die Gegenwart erfreulicher? Illustration: Katja Gendikova

Vor der Einführung des Bürgergeldes:Was von Hartz IV bleibt

Hartz IV hat das Leben von Millionen Arbeitslosen, Jobcenter-Mitarbeitern und Anwälten geprägt. Wie bewerten sie diese Zeit? Acht Protokolle.

16.12.2022, 18:59  Uhr

„Ich habe mich für meine Schuhe geschämt“

Kevin Schmale, 26, (Nachname geändert), Lehramtsstudent aus Offenbach

Ich kann mich noch gut an die Demütigung erinnern. In der Schule hatten damals alle Vans, das waren diese Skaterschuhe mit dem Schachbrettmuster. Ich trug eine No-Name-Version an den Füßen. Mein Religionslehrer, wir konnten uns beide nicht leiden, bemerkte das, er sagte: „Was hast du denn da für Billigschuhe an?“ – Ich habe mich so geschämt.

Generell fiel mir im Gymnasium zum ersten Mal auf, dass wir in Armut lebten. Meine Mitschüler und Mitschülerinnen trugen Markenklamotten, fuhren in den Urlaub und lebten in Reihenhäusern. Ich fuhr im Sommer höchstens zu meinen Großeltern, wir lebten in einem schäbigen Mietshaus mit kleinen Zimmern. Mir war das so peinlich, dass ich mich habe verleugnen lassen, wenn Freunde bei uns klingelten. Als wir in der Schule unser Zuhause malen sollten, habe ich mich geweigert.

Als ich klein war, hatte mein Vater noch Arbeit. Dann trennten sich meine Eltern, mein Vater war auf einmal alleinerziehend. Er kündigte, um sich um mich zu kümmern. Ich glaube, er hat die Scheidung nie wirklich verkraftet. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands ist er bis heute arbeitslos.

Schon als Jugendlicher habe ich gemerkt: Die vom Jobcenter sind uns auf den Fersen. Jeder Cent wurde von denen umgedreht. Weil ich mit meinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft gewohnt habe, bekam ich selbst als Jugendlicher Briefe. Die wollten mir einen Job oder eine Ausbildung vermitteln, obwohl ich noch zur Schule ging. Man musste immer umgehend auf die Schrei­ben antworten. Einmal bin ich über ein Wochenende zu meinen Großeltern gefahren. Als rauskam, dass ich drei Tage nicht in der Bedarfsgemeinschaft war, wollten die hundert Euro von meinem Vater zurück.

Das Schlimmste an meiner Hartz-IV-Geschichte ist aber, wie ich meinen Vater deswegen gesehen habe. Er war für mich kein Vorbild. Das Bild, das die Gesellschaft von Arbeitslosen hat, war auch irgendwann mein Bild von ihm. „Hartzer“ – ich hasse dieses Wort – wurden als biertrinkende Assis dargestellt, die am Fliesentisch sitzen und RTL schauen. Zu faul und zu doof, um zu arbeiten. Wenn du dann noch Kevin heißt, bist du doppelt gestraft.

Nach dem Abitur zog ich in eine eigene Wohnung, bekam Bafög und Kindergeld. Klar, das ist auch Kohle vom Staat. Aber es war trotzdem ein anderes Gefühl. Das Stigma war weg. Nebenbei habe ich gejobbt. Meine Familiengeschichte habe ich, so gut es ging, verheimlicht. Ich habe dann Förderschullehramt studiert, das mache ich bis heute. Aber das Studium hat mich irgendwann überfordert, die Coronapandemie hat mich endgültig aus der Bahn geworfen.

Ich glaube, man kann schon sagen, dass bestimmte Strukturen von Armut vererbt werden können. Es fällt mir zum Beispiel bis heute schwer, Termine einzuhalten oder pünktlich aufzustehen. Ich habe noch nie Vollzeit gearbeitet und habe bis heute Angst davor. Ich habe es einfach nie gelernt. Wegen psychischer Probleme habe ich beschlossen, in eine stationäre Therapie zu gehen. Ob ich mein Studium beenden werde, weiß ich nicht. Jetzt mache ich erst mal ein Krankheitssemester – und gehe zurück in Hartz IV. ­Anders kann ich meine Wohnung nicht halten, während ich in der Klinik bin. Mein Bafög ist ausgelaufen.

Die Schikane beginnt direkt wieder. Jeder Zahlungsein- und -ausgang muss erklärt werden. Ich bekam kürzlich ein Schreiben voller Rechtschreibfehler, warum ich denn für rund fünf Euro bei einer Tankstelle einkaufen war. Da bin ich echt wütend geworden. Ich verdiene mir als Alltagshelfer etwas dazu und hatte mir auf dem Weg zu einem Klienten einen Energydrink geholt.

Vom Bürgergeld erwarte ich, dass solche Einmischungen ins Private unterlassen werden. Ich finde den Namen übrigens gut! Das hätten sie gleich so nennen sollen. Wenn ich Gerhard Schröder und Peter Hartz jetzt vor mir hätte, würde ich ihnen sagen: „Ihr lebt doch in einer anderen Rea­li­tät. Euch geht es nur um Zahlen.“ Meine Depressionen, mein geringes Selbstbewusstsein und meine sozialen Ängste und Probleme, das alles verdanke ich auch dem Stigma durch Hartz IV. Ich hoffe, dass das Kindern, die mit Bürgergeld aufwachsen, nicht passiert.

„Das Riesenproblem ist der Wohnungsmarkt“

Nana Steinke, 40, Anwältin für Sozialrecht in Laatzen bei Hannover

Hartz IV hat meinen Job massiv geprägt. Da tobt das Leben, man kriegt die Ängste und Nöte der Menschen mit. Das ist belastend, aber auch positiv, weil mein Anwaltsberuf dadurch einen Sinn bekommt. Ich erfahre eine große Dankbarkeit, wenn die Leute wissen, wie sie die nächste Rechnung bezahlen können oder auch einfach mit Res­pekt behandelt werden. Man muss aber bereit sein, unglaubliche Mengen an Akten zu bearbeiten und sich auch mal unkonventionelle Lösungen überlegen.

Das Riesenproblem bei Hartz IV ist der Wohnungsmarkt. Die Städte und Gemeinden legen fest, welche Mieten als angemessen gelten. Die Obergrenzen sind oft nicht nur rechtswidrig, sondern auch zu niedrig. Ich hatte den Fall einer vierköpfigen Familie, die Mutter war mit dem dritten Kind schwanger. Der Mann ist selbstständig, er hatte wegen Corona weniger Aufträge. Sie wohnten in einer baufälligen Wohnung, in der nur die Küche und ein Zimmer beheizbar waren. Durch einen Riss in der Wand konnte man nach draußen sehen. Sie hätten eine andere Wohnung kriegen können, aber die lag 3,80 Euro über der Angemessenheitsgrenze, das Jobcenter lehnte einen Umzug ab.

Leute, die sich verkleinern müssen, weil etwa Sohn oder Tochter ausziehen oder weil es zu einer Trennung kommt, finden keine passende Wohnung. Die Mieten liegen oftmals 100 bis 150 Euro über dem, was als angemessen gilt. Viele Leute beißen dann in den sauren Apfel und bezahlen den Teil der Miete, der vom Jobcenter nicht übernommen wird, aus dem Regelsatz. Man kann da aber nicht mal eben 100 Euro für die Miete abzweigen, den Regelsatz braucht man für den Lebensunterhalt. Ich sage den Leuten immer: 50 Euro sind zu schaffen, aber alles darüber ist dauerhaft nicht zu stemmen.

Dass sich mit Einführung des Bürgergelds an der Wohnfrage viel ändert, glaube ich nicht. Wenn man neu Bürgergeld beantragt, übernehmen die Jobcenter nun ein Jahr lang die Wohnkosten in tatsächlicher Höhe. Das hilft aber den Leuten nicht, die bereits im Hartz-IV-Bezug sind und sich verkleinern oder vergrößern müssen. Und nach einem Jahr? Müssen sich die Leute doch eine billigere Wohnung suchen.

Regelbedarf: Am 1. Januar 2023 tritt das Bürgergeld in Kraft und ersetzt Hartz IV. Der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene steigt damit von 449 auf 502 Euro. Paare bekommen je Partner 451 Euro, Kinder zwischen 6 und 13 Jahren 348 Euro. Die Regelsätze sollen nun zeitnäher an das Inflationsgeschehen angepasst werden.

Zuverdienst: Beim Bürgergeld gelten höhere Freibeträge als bei Hartz IV. Wer zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, soll künftig mehr von seinem Einkommen behalten können, die Freibeträge in diesem Bereich werden auf 30 Prozent angehoben.

Vermittlung: Das Bürgergeld schafft den Vorrang der Vermittlung in Arbeit ab. Wer eine Aus- oder Weiterbildung machen will, soll es mit dem Bürgergeld leichter haben, diese vom Jobcenter bewilligt zu bekommen.

Wohnen: Während Corona haben die Behörden schon höhere Mieten über­nommen als eigentlich vorgesehen. Mit dem Bürgergeld wird eine sogenannte Karenzzeit zur Regel: Wer das Bürgergeld neu beantragt, bekommt ein Jahr lang die Wohn­kosten erstattet, unabhängig von der Höhe. In dieser Zeit wird also nicht geprüft, ob die Wohnkosten als „angemessen“ gelten.

Schonvermögen: Bürgergeld-EmpfängerInnen dürfen ein Vermögen von 40.000 Euro behalten plus 15.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied.

Sanktionen: Es können weiterhin Sank­tionen verhängt werden. In einem Drei-­Stufen-­Modell werden nach sogenannten Pflichtverletzungen monatlich zunächst 10 Prozent, dann 20 oder 30 Prozent weniger Bürgergeld ausgezahlt.

Ein weiteres Problem von Hartz IV sind die Qualifikationen, die den Menschen im Jobcenter angeboten oder verwehrt werden. Ich hatte einen knapp 60-Jährigen, der wollte eine dreimonatige Fortbildung machen für eine logistische Tätigkeit, er hatte eine Übernahmegarantie. Dem Jobcenter war die Fortbildung mit 8.000 Euro zu teuer. Dabei hätte der Mann bis zur Rente einen sicheren Arbeitsplatz gehabt. Aber klar, es geht auch anders: Eine Sachbearbeiterin sorgte dafür, dass ein junger Mann den Führerschein vom Jobcenter bezahlt bekam. Den brauchte er für seinen Traumjob, in dem er bis heute arbeitet.

Auch die Anrechnung von Einkommen auf den Hartz-IV-Bezug ist ein großes Problem. Es ist in den Köpfen der Menschen so drin: Man bekommt Hartz IV, und wenn man arbeitet, zieht das Jobcenter einem fast das ganze Einkommen ab. Die Bürokratie kommt noch dazu, vor allem für Selbstständige ist das sehr kompliziert.

Die Änderungen, die das Bürgergeld bringt, reichen auch hier nicht aus. Wir bräuchten ein wirklich faires und nachvollziehbares Stufenmodell zur Einkommensanrechnung. Und bei der Weiterbildung anstelle von Standardmaßnahmen mehr Beratung, mehr gezielte Förderung. Das Bürgergeld eröffnet immer noch zu wenige Möglichkeiten, die Leute voranzubringen und damit auch dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Mit dem Bürgergeld sind es immer noch dieselben Ämter, dieselben Sachbearbeiter, die zu viele Fälle bearbeiten müssen und überlastet sind.

Auf einem umfangreichen Aktenstapel steht eine kleine Figur in Richterrobe

Die Bürokratie bleibt Illustration: Katja Gendikova

„Es wird nur aufs Materielle geschaut“

Zarifa Dagher, 29, (Name geändert), Alleinerziehende aus Wilhelmshaven, Hartz-IV-Empfängerin

Hartz IV hat eine gute Seite: Keiner muss auf der Straße leben. Die schlechte Seite ist, dass man zu wenig Geld bekommt und dass die im Jobcenter über das Leben von anderen Menschen bestimmen. Die machen die Regeln, und läuft es nicht nach deren Nase, kriegt man kein Geld. Das ist Erpressung.

Ich bin alleinerziehende Mutter. Seit ich meinen Sohn auf die Welt gebracht habe, muss ich um alles kämpfen. Ich möchte mit meinem Kind etwas unternehmen, aber habe nicht genug Geld dafür. Man darf bei Hartz IV nur 21 Tage im Jahr verreisen, Wochenenden eingerechnet. Die Sommerferien sind aber allein schon sechs Wochen lang. Fahre ich trotzdem, bekomme ich eine Sperre. Das ist nicht schön. Ich möchte nicht, dass jemand so über mein Leben bestimmt.

Ich habe eine Ausbildung zur Konditorin gemacht, aber nicht abgeschlossen, weil ich schwanger wurde. Mein Sohn kam 2015 zur Welt. Das hat mein ganzes Leben verändert. Ich weiß nicht, wer der Vater ist. Meine Familie ist muslimisch. Als sie erfahren haben, dass ich ein uneheliches Kind bekomme, haben sie mich verstoßen. Ich stand ganz alleine da.

Seitdem beziehe ich Hartz IV. Einmal bin ich mit meinem Sohn für eine Woche in den Urlaub geflogen. Das Jobcenter hat das mitgekriegt, ich habe eine Sanktion bekommen. Ich musste das ganze Geld für diese Zeit zurückzahlen, nur weil ich die Reise nicht gemeldet hatte. Dabei hätte ich dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen müssen, in den ersten drei Jahren mit Kind muss man das nicht.

Als mein Sohn in einen Kindergarten kam, haben sie mich in eine Maßnahme gesteckt. Ich musste ein Jahr lang Bewerbungsschreiben üben und solche Sachen. Momentan bin ich verpflichtet, jeden Monat drei Bewerbungen zu verschicken. Ich habe mich bei Arztpraxen beworben, bei einem Krankenhaus. Aber eine alleinerziehende Mutter in Teilzeit nehmen sie nicht, das ist ihnen zu riskant. Ich muss ja jederzeit springen, wenn etwas mit meinem Sohn ist.

Ich würde gern eine Weiterbildung machen im Gesundheitsbereich, ich helfe Menschen sehr gerne. Wir haben beim Jobcenter danach gesucht, aber alles beginnt um 7 oder 8 Uhr, das passt nicht mit der Schulzeit zusammen. Mein Sohn hat von 8.45 Uhr bis 12.45 Uhr Unterricht, vier Stunden. Wie soll ich da eine Ausbildung machen oder arbeiten?

Wenn sie den Leuten mit dem Bürgergeld wirklich helfen wollten, müssten sie menschlicher werden und gucken: Wo sind Familien in Not, was brauchen sie? Ich habe nach sieben Jahren einen Antrag gestellt auf Neuausstattung für meinen Sohn, weil er jetzt in die Schule geht.

Ein Schreibtisch, ein Schrank, ein Bett – er schläft bisher bei mir. Sie haben nur das Bett genehmigt mit der Begründung, der Schrank reiche noch, und mein Sohn könne die Hausaufgaben am Küchentisch machen. Das fand ich traurig. Da wird nur auf das Materielle geschaut und nicht auf die Menschen.

„Es ist ein Kampf, nicht in ein Loch zu fallen“

Susanne Rückert* (Name geändert), 40, gelernte Erzieherin aus Gießen, Hartz-IV-Empfängerin:

Wer Hartz IV bezieht, wird gleich in eine Schublade gesteckt: Arbeitslose sind faul, sie tun nichts für die Gesellschaft. Deshalb will ich auch meinen echten Namen nicht öffentlich nennen. Ich denke ja selbst öfters, ich müsste mehr leisten. Ich möchte arbeiten. Aber ich kann gesundheitlich nicht immer so, wie ich will.

2002

Die rot-grüne Bundesregierung setzt eine Kommission zur Reform des Arbeitsmarkts ein. Sie wird vom ehemaligen VW-Manager Peter Hartz geleitet.

2003

Der Bundestag beschließt das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, kurz: Hartz IV. Kernpunkte sind der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.

Im November findet in Berlin die erste große Demonstration gegen die Hartz-Gesetze und Gerhard Schröders Agenda 2010 mit über 100.000 TeilnehmerInnen statt. Viele weitere Großdemos folgen.

2005

Hartz IV tritt in Kraft. 2,8 Millionen Menschen erhalten nun Arbeitslosengeld II. Im Westen liegt der Grundbetrag bei monatlich 345 Euro, im Osten bei 331 Euro.

2006

Die Beträge in Ost und West werden angeglichen.

2022

Der Regelsatz, der regelmäßig angehoben wurde, beträgt nun 449 Euro. Im September beschließt der Bundestag die Einführung des Bürgergelds, im November stimmt auch der Bundesrat zu. Hartz IV ist damit Geschichte.

Meine Mutter hatte Multiple Sklerose. Ich musste mich als Kind um sie kümmern, mein Vater hat sie auch gepflegt, aber er hat auch viel gearbeitet. Ich habe meiner Mutter geholfen, wenn sie den Rollstuhl gewechselt hat, ich bin nachts aufgestanden, mit 10 habe ich die Intimpflege übernommen. Ich bin nachts öfters in Panik aufgewacht, weil ich dachte, sie stirbt. Ich habe viele Jahre sehr viel geleistet, aber das sah man von außen nicht.

Ich habe eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, arbeitete in einer Grundschule, dann in einem Kindergarten. Ab 2008 habe ich Soziale Arbeit studiert. Ich stand kurz vor dem Abschluss, da wurde mein Vater krank. Dann starb meine Mutter. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, es ging gar nichts mehr. Die Ärzte diagnostizierten eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Angststörung. Zunächst hat mein damaliger Mann mich noch unterstützt. 2014 haben wir uns getrennt.

Ich bin dankbar, dass es das soziale Netz gibt und ich nicht einfach auf der Straße stand. Ich bekam eine Erwerbsminderungsrente und lebte mehrere Jahre im Betreuten Wohnen. Seit anderthalb Jahren geht es mir besser, ich lebe wieder in einer eigenen Wohnung und beziehe Hartz IV. Viele machen andere Erfahrungen, aber bei mir sind die Mitarbeiterinnen im Jobcenter sensibel, sie gehen auf meine Situation ein.

Ich kann nicht mehr als Erzieherin arbeiten. Mich um andere Menschen zu kümmern, das triggert zu viel bei mir, da kriege ich Flashbacks. Ich habe außerdem Schmerzen in den Knochen, die sich die Ärzte bislang auch nicht erklären können.

Ich will einen Job haben, zumindest für mehrere Stunden am Tag. Ich habe mal in einem Baumarkt gearbeitet. Vielleicht mache ich auch noch mein Studium zu Ende?

Eine Tagesstruktur ist wichtig. Zurzeit bin ich in einer Maßnahme, 4 Stunden am Tag kümmere ich mich bei der Arbeitsloseninitiative Gießen um die Computer und um die Publikationen. Ich komme mit Menschen ins Gespräch, das gibt mir Energie. An den Wochenenden fehlt mir diese Struktur, ich lebe alleine. Es ist ein Kampf, nicht in ein Loch zu fallen.

Wenn jetzt das Bürgergeld kommt, wird der Regelsatz höher, ansonsten verändert sich für mich nichts. Bürgergeld klingt vielleicht besser. Aber es gab ja gleich die öffentliche Diskussion, dass man es sich damit auf Kosten der Gesellschaft gut gehen lassen könne. Ich fürchte, die Leute haben beim Bürgergeld wieder dieselben Vorurteile wie bei Hartz IV.

„Das Personal reicht hinten und vorne nicht“

Matthias Horsthemke-Späth, 54, Mitglied der bundesweiten Arbeitsgruppe der Personalräte der Jobcenter, Berlin

Ich blicke mit gemischten Gefühlen auf Hartz IV. Ich bin stolz darauf, dass wir das in den Jobcentern 18 Jahre lang mit viel Schweiß und Tränen gewuppt haben. Aber in der Öffentlichkeit waren wir oft die Bösen, die die Leute drangsalieren. Dabei haben wir maßgeblich zum sozialen Frieden beigetragen.

Bei den Leistungsbeziehern gab es seit der Einführung des Arbeitslosengelds II eine hohe Unzufriedenheit. Ich habe in der Arbeitsverwaltung in Westberlin gelernt, da ging es auch rustikal zur Sache, aber so wie in den Jobcentern habe ich es dort nie erlebt. Wir haben tagtäglich mit Anfeindungen zu tun. Der Frust ist zwar nachvollziehbar, aber wir sind dafür der falsche Adressat. Die Gesetze haben andere gemacht, wir setzen sie nur um.

Ich bin seit fast vier Jahrzehnten bei der Bundesagentur für Arbeit und seit der Einführung 2005 im Jobcenter. Das war damals vollkommen chaotisch. Wir waren überfordert, es fehlten die Strukturen. Es hat länger gedauert, aber dann haben wir doch eine moderne Behördenstruktur entwickelt und die Sache ins Laufen gebracht. Wobei die ganzen Jahre über das Personal knapp war und die Arbeit immer wieder überfordernd.

Wir haben im Jobcenter mit dem harten Kern der Arbeitslosen zu tun, mit schwierigen Schicksalen. Da machen wir über Monate, manchmal Jahre Sozialarbeit, um die Menschen überhaupt wieder in die Nähe des Arbeitsmarkts zu bringen.

Obwohl es viele offene Stellen gibt, findet eine gewisse Zahl an Klienten keinen Zugang. Ob die Instrumente von Hartz IV die richtigen waren? Anscheinend nicht. Es gibt Statistiken, wonach mit den Sanktionen wenig bewegt wurde. Deshalb will man ja jetzt auch ein Stück weg vom behördlichen Zwang hin zu mehr Kooperation auf Augenhöhe.

Dass es mehr Weiterbildung geben soll, ist ein großer Vorteil des Bürgergelds. Theoretisch. Praktisch wird das schwierig, weil wir in den Jobcentern Personal abbauen mussten. Bei Jugendlichen haben wir einen Betreuungsschlüssel von 1 zu 75, bei den Erwachsenen 1 zu 150 – theoretische Werte im Gesetz, die in der Praxis oft mehr als doppelt so hoch ausfallen, weil einfach Leute fehlen. Das reicht hinten und vorne nicht. Wir haben für mehr Weiterbildungen auch viel zu wenige finanzielle Mittel.

Ich denke, wir werden in den nächsten Monaten viele neue Kunden bekommen. Das Schonvermögen wird mit dem Bürgergeld erhöht, mehr Menschen haben Ansprüche auf Leistungen.

Neben der Einführung des Bürgergelds gibt es auch sogenannte Sondereffekte: Wegen der hohen Energiekosten wird es Leute geben, die aufstocken müssen. Wenn die Infrastruktur in der Ukraine weiter zerschossen wird, werden auch mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in die Jobcenter kommen. Ein großer Andrang verlängert die Bearbeitungsdauer, das sorgt dann wieder für Frust.

Ob das Bürgergeld ähnlich stigmatisierend sein wird wie Hartz IV, weiß ich nicht. Wenn die Kritiker der Reform jetzt von Hartz V sprechen statt vom Bürgergeld, verlängern sie dieses Stigma. Auch die politische Diskussion und die Hetze hat den eigentlich guten Ansatz des Bürgergelds schon im Vorfeld beschädigt.

„Ich lasse mich nicht unterkriegen“

Heike Towae, 52, Sozialarbeiterin und Köchin, chronisch krank, lebt von Grundsicherung

Der Tag, an dem ich in die Armut abgerutscht bin, war der Tag, an dem sich mein gesundheitlicher Zustand stark verschlechtert hat. Bei vielen Menschen hängt das zusammen: Armut und Gesundheit.

Es war 2014. Ich habe damals als Köchin gearbeitet. Ein ganz normaler Arbeitstag. Auf einmal kipp ich um und winde mich auf dem Küchenboden. Epileptischer Anfall. Die Ärzte haben gesagt, ich hatte wohl einen Hirnschlag. Von einem Tag auf den anderen war ich Epileptikerin. Kurz darauf Frührentnerin, mit Mitte 40.

Ich lebe von Grundsicherung. Das heißt: Weil meine Rente so niedrig ist, muss sie auf Hartz-IV-Niveau aufgestockt werden – für ein „menschenwürdiges Existenzminimum“. 449 Euro stehen einer alleinstehenden Person zu.

Ich komme aus einer Mittelstandsfamilie. Nach meinem Schulabschluss habe ich Soziale Arbeit studiert, danach in der soziokulturellen Projektarbeit mit Frauen gearbeitet. Das war toll, aber viel verdient hat man nicht. Weil ich schon immer gern gekocht habe, habe ich nebenher in der Gastro gejobbt und schließlich noch eine Ausbildung als Köchin gemacht. Soziale Arbeit und Kochen konnte ich sogar verbinden, indem ich Kochkurse für Hartz-IV-Betroffene anbot.

Und auf einmal war alles vorbei. Meine Rücklagen waren schnell aufgebraucht. Dass du arm bist, merkst du, wenn deine Schuhe kaputtgehen und du dir keine neuen leisten kannst. Bei Hartz IV wurden zudem immer mehr Mehrbedarfe für chronische Erkrankungen gestrichen. Es gab Situationen, da hatte ich kein Geld für meine lebenswichtigen Medikamente und musste mir bei Freunden etwas leihen.

Unterkriegen lasse ich mich aber nicht. Ich habe einen tollen Freundeskreis und viele kostengünstige Hobbys. Zusammen mit anderen Betroffenen kläre ich unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen auf und kämpfe gegen Vorurteile. Ich spare gerade für einen Bretagne-Urlaub. Im Sommer war ich auch mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs. Ich hatte viele Möglichkeiten auszusteigen, falls sich ein Anfall ankündigt.

Für Menschen mit Grundsicherung ändert sich durch das Bürgergeld bis auf den Infla­tions­ausgleich nichts. Für Hartz-IV-Empfänger gibt es einige Verbesserungen, zum Beispiel das Schonvermögen. Aber das wäre bei mir ja sowieso schon weg gewesen. Für mich ist das Bürgergeld eher ein Bürgerhartz. Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert einen Regelsatz von mindestens 725 Euro. Derweil kürzt die Politik irgendwelche Posten, um auf ihre Wunschsumme von 502 Euro zu kommen.

Ich bin maximal enttäuscht von der Reform. Nur wer jetzt neu in Hartz IV kommt, hat minimale Vorteile. Jugendliche dürfen mehr von ihrem Lohn behalten, aber auch nicht alles. Und das wird auch so bleiben, bis es keine Kindergrundsicherung gibt.

Ein Person sitzt am Rande eines leeren Tellers und schaut traurig

Der Regelsatz wird angehoben, ist aber immer noch zu niedrig Illustration: Katja Gendikova

„Es ändert sich nur der Name“

Katrin Heck, 34, (Name geändert), ausgebildete Fachkraft für Gastronomie in Gießen, Hartz-IV-Empfängerin

Wenn im Januar das Bürgergeld eingeführt wird, bekomme ich 502 Euro pro Monat zum Leben. Das ist lächerlich. Jetzt, wo alles teurer wird, muss ich entscheiden, was ich kaufe, was ich weglasse. Butter ist zu teuer. Stattdessen habe ich länger Margarine und Frischkäse genommen, aber das ist jetzt auch zu teuer. Wurst kaufe ich gar nicht mehr. Ich esse Brot mit Käse.

Ins Kino gehe ich nicht mehr, ich warte, bis die Filme im Fernsehen laufen. Ich lese viel. Die Bücher hole ich aus einer alten Telefonzelle, wo gebrauchte Sachen getauscht werden. Oder ich leihe sie bei meiner Mutter oder meinem Opa.

700 Euro müssten es schon sein, aber das ist zu viel für uns, sagen die Politiker, dann würden wir nicht mehr arbeiten. Ich glaube, die reden gar nicht mit uns. Ich würde ihnen sagen: Wir wollen arbeiten.

Ich habe eine Ausbildung als Fachkraft für Gastgewerbe gemacht. Ich hatte kurz eine Anstellung, aber als dort alles umstrukturiert wurde, habe ich das aufgegeben. Seit 2018 suche ich einen Job. Es gibt offene Stellen, aber die Betriebe wollen nur Leute mit Erfahrung, die Ausbildung zählt da nicht.

Sobald sie sehen, dass jemand schon längere Zeit arbeitssuchend ist, denken sie, das wird nichts, die ist faul, die hat eh keinen Bock zu arbeiten. Man bekommt keine Chance.

Beim Jobcenter habe ich eine Fallmanagerin, über die kann ich nichts Schlechtes sagen. Wenn es offene Stellen gibt, weist sie mich darauf hin. Sie weiß, dass ich nur in Gießen arbeiten kann, weil ich mit Öffentlichen fahre. Ich muss nachweisen, dass ich jeden Monat vier Bewerbungen schreibe, das mache ich auch. Die meisten antworten nicht mal, oder man kriegt eine Absage.

Im Moment bin ich in einer Maßnahme. Ich verkaufe in einer Bude auf dem Weihnachtsmarkt selbstgemachte Vogelhäuser und Mützen. Wir haben ein Kochbuch zusammengestellt, das kann man da auch kaufen. Auf dem Weihnachtsmarkt kostet ein Glühwein 4,50 Euro plus 2 Euro Pfand. Da gehe ich privat gar nicht erst hin. Die Politiker sollten auch mal versuchen, mit dem Regelsatz zu leben. Die wissen gar nicht, was das bedeutet.

Ich bitte meine Familie ungern um Geld. Vor einer Woche musste ich meine Mutter fragen, ob sie mir etwas leihen kann, ich hatte nicht mehr genug im Kühlschrank. Das ist schlimm für mich.

Mit dem Bürgergeld ändert sich nur der Name. Auch wenn das Ding jetzt anders heißt, es ist immer noch das gleiche.

„Hoher Stellenwert des Sozialrechts“

Marcus Howe, 54, Richter am Sozialgericht Berlin

Für unser Gericht kann man wirklich sagen: Es gab eine Zeit vor der Einführung von Hartz IV und eine Zeit danach. Vorher kannte unser Haus kaum einer, und auf einmal berichtete sogar die „Tagesschau“ über uns. Die Aktenberge, die sich bei uns türmten, waren für viele wie ein Sinnbild für das, was schiefläuft.

Tatsächlich ist die Zahl der Fälle explodiert: Im ersten Jahr, 2005, gingen 5.000 Hartz-IV-Fälle ein, fünf Jahre später waren es schon 30.000 neue Verfahren – pro Jahr. Für einige Zeit hatten wir nicht mal genügend Aktendeckel, um all die Klagen abzuheften.

Mittlerweile hat sich die Lage beruhigt. Das Gesetz wurde nachgebessert, die Gerichte haben viele offene Rechtsfragen geklärt.

Dafür sind die Streitigkeiten komplizierter geworden. Manchmal wünschte ich, ich hätte eine Buchhalterausbildung. Wenn ich zum Beispiel die Bilanzen eines kleinen Gebrauchtwagenhändlers prüfen soll, der ergänzend Leistungen vom Jobcenter bekommt, da brütet man über zwei Ordnern voller schief kopierter Quittungen und verflucht das Gesetz: Warum kann man nicht einfach die Angaben im Steuerbescheid zugrunde legen? Aber das war dem Gesetzgeber nicht genau genug.

Das Bürgergeld ist zwar ein neuer Name für die Grundsicherung. Aber es ist ein Änderungsgesetz und kein völlig neues Gesetz. Man kann also nicht sagen: Hartz IV ist vorbei, und jetzt kommt was völlig Neues.

Viele Probleme von gestern und heute, die werden wir auch morgen noch haben. Zum Beispiel alles, was Unterkunftskosten betrifft, es steht ja weiterhin im Gesetz, nur „angemessene Unterkunftskosten“ werden nach einer Karenzzeit übernommen. Wir haben häufiger den Fall, dass ein Kläger, dessen Miete nicht voll übernommen wird, sagt: „Die Berechnung des Jobcenters ist nicht nachvollziehbar, schauen Sie mal, wie die Mieten gestiegen sind.“

Da muss das Gericht dann prüfen, ob die Rechenmethode des Jobcenters überzeugt und ob es überhaupt freien Wohnraum in dieser Preislage gibt. Es spielen oft auch die konkreten Umstände eine Rolle.

Wenn etwa eine Klägerin sagt: „Meine Kinder sind in dieser Gegend eingelebt, meine Mutter wohnt um die Ecke, ich kann jetzt nicht woanders hinziehen“ – dann muss das Gericht prüfen, wie stichhaltig das ist.

Menschen, die bei uns klagen, haben ganz unterschiedliche Gründe. Kürzlich habe ich einen Fall gehabt, wo der Mann sagte, er habe einen Jobcenter-Termin nicht wahrgenommen, weil er Gedächtnisstörungen hatte. Dann müssen Sie ermitteln, Sie fragen den Arzt, der sagt: Ja, der Mann nimmt Medikamente, das kann sein mit den Gedächtnisstörungen. Sie lassen die Arztberichte kommen und so weiter.

Was mich immer beeindruckt, ist, mit welchem Aufwand wir die Prozesse bearbeiten. In meiner letzten Sitzung ging es in keinem der Fälle um mehr als 160 Euro. Trotzdem saßen da den ganzen Vormittag ein Berufsrichter, zwei ehrenamtliche Richter, eine Behördenvertreterin und für jeden Kläger ein Rechtsanwalt, der Prozesskostenhilfe bekommt. Das zeigt, finde ich, ganz gut, welch hohen Stellenwert das Sozialrecht in unserem Land hat.

Wenn die Jobcenter Leistungen großzügiger gewähren oder noch genauer abwägen, ob eine Sanktion wirklich angebracht ist, erspart das natürlich Streit. Das haben wir in der Coronapandemie gesehen, wo viele soziale Härten abgefedert wurden. Manches wird mit dem Bürgergeld hoffentlich einfacher, beispielsweise gibt es keine Rückforderungen von Bagatellbeträgen mehr.

Aber die Erfahrung zeigt auch: Jedes neue Gesetz wirft neue Fragen auf. Und die landen früher oder später bei uns.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.