Vorauseilender Jahresrückblick 2018: Aufbruch zu neuen Ufern

2018 reißt alle Brücken ein und singt bei beim Weser-Übersetzen im Paddelboot Lieder von Simon and Garfunkel. Nah am Wasser gebaut: der Jahresrückblick 2018.

Ufert komplett aus: 2018 Foto: Illustration Til Mette

1. Januar: Noch in der Silvesternacht bekommt die baufällige Stephani-Brücke sichtbare Risse. Aufgrund großer Menschenmengen, die sich dort offenbar klandestin zum Sekttrinken getroffen hatten, droht der Einsturz. Als dann auch noch ein Fahrradfahrer eine Neujahrs-Radtour über die Brücke macht, ist die kritische Masse überschritten. Die baufällige Brücke stürzt aufgrund der Überlastungen durch das massive Fahrrad ein. Mehrere arglose LKW-Fahrer werden schwer verletzt. Aber es kommt noch schlimmer: Ein unschuldiger 20-Tonner ertrinkt in der Weser.

2. Januar: Bürgerschaftspräsident Christian Weber ruft eine einwöchige Staatstrauer für den ertrunkenen LKW aus. Jens Tittmann, Sprecher des Bausenators, sagt am Rande der Trauerfeier unter drei: „Wir streben eine Klage gegen ‚extra3‘ an.“

30. Januar: Die AfD organisiert einen Fackelzug durch Bremen unter dem Motto „85 Jahre und kein bisschen Schande“. Auf taz-Nachfrage sagt Dierk Schittkowski, Präsident des Verfassungsschutzes (VS) in Bremen: „Wir schließen zum jetzigen Zeitpunkt eine Beobachtung der AfD aus.“

15. Februar: Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) stellt ein neues Grundschulcurriculum vor: Es besteht in einem Vierjahresvertrag bei Congstar und einem Wunschsmartphone. „Zuerst war das zwar nur als Brückenlösung für unseren kleinen Engpass gedacht“, erläutert sie bei der Senats-PK, „bei der Ausarbeitung haben wir jedoch festgestellt: Wir können so auf einen Schlag die Arbeitsüberlastung der Grundschullehrer*innen und mangelhafte Unterrichtsversorgung nachhaltig verbessern.“ Finanzsenatorin Karo Linnert (Grüne) ergänzt: „Man kann mit dem Modell nur zufrieden sein.“ Alles zusammengerechnet sei das „der mit Abstand ergiebigste Sparvorschlag, mit dem ich in meiner Amtszeit hier zu tun hatte“.

4. März: Die Identitäre Bewegung besetzt die Bürgermeister-Smidt-Brücke. Als Wegzoll verlangen die rechten Trolle das Singen der ersten Strophe des Deutschland-Liedes oder alternativ das Horst-Wessel-Lied. Die Geschichtsstudenten Marvin M. und Robert T., die nur zufällig auf der Brücke mitlaufen, schreien lauthals und ausdauernd: „Wo wart ihr Silvester?!“ Zufällig ist auch der Bundestagsabgeordnete Frank M. (AfD) zugegen, der Flyer der Identitären verteilt. „Das hier ist eine freie Brücke“, sagt M., während er aus einem Unvereinbarkeitsbeschluss einen Papierflieger faltet und ihn in die Weser wirft.

10. April: Die Baubehörde reicht eine Klage gegen das Satiremagazin „extra3“ ein. Begründung: Mit einem Fake-News-Beitrag über die Stephani-Brücke habe man zu „ungenehmigten Versammlungen“ und „klandestinen Fahrradfahren“ angestiftet. Nachdem Medien bundesweit darüber berichten, schreibt der Satiriker Jens Böhnermann aus Bremen-Nord ein Schmähgedicht an den Bausenator Joachim Lohse (Grüne) und wird kurz darauf in Vegesack festgenommen und in die JVA Oslebshausen gebracht. Ein alter Paragraf aus der Kaiserzeit im Bremer Landesgesetz ermöglicht eine Isolationshaft ohne Anklage.

27. April: Es zeichnet sich ab, dass zum neuen Kita-Jahr über 500 Plätze fehlen werden, die in den vergangenen zwei Jahren aufgestellten Container reichen nicht. „Wir konnten doch nicht ahnen, dass die Bevölkerungsstatistik erneut so spät kommt“, sagt Senatorin Bogedan. Immerhin präsentiert sie sogleich eine Lösung: „Alle Kinder im Vorschulalter bekommen fortan Virtual-Reality-Brillen.“ Die schnell entwickelte Simulation „städtische Kita“ gaukelt unbetreuten Kindern vor, sich tatsächlich in einer Bremer Kita zu befinden. Für Realismus sorgen gestresste Erzieherinnen, die aufgrund eines hohen Krankenstands allein für 21 simulierte Kinder verantwortlich sind.

10. Mai: Burn-in der AfD mit einer Festrede von Akif Pirincci vor der Rolandstatue. Der VS schließt eine Beobachtung weiter aus.

15. Juni: Ein Herbststurm mit schwerem Salznebel macht die ohnehin schon einsturzgefährdeten Bremer Brücken bis auf wenige Ausnahmen unzugänglich. Lediglich LKWs dürfen noch passieren.

23. Juni: Nachdem der Senat keinen Investor für das Lankenauer Höft findet, sucht der Beirat Woltmershausen einen neuen Zwischennutzer. Zufällig ist Frank Magnitz (AfD) vor Ort. Er schlägt vor, dort ein AfD-Büro mit „angeschlossener deutscher Küche“ zu eröffnen. Dort soll es „nur deutsche Speisen mit Schweinefleisch“ geben. Zahlreiche RentnerInnen, die zur Beiratssitzung gekommen sind, applaudieren minutenlang. Die AfD bekommt den Zuschlag. Magnitz verspricht als erstes Gericht auf der Tageskarte „deutsche Scholle – das Schwein der Meere“.

10. Juli: Ein Zusammenschluss aus wohlhabenden Viertel-Eltern, akademischen Galão-TrinkerInnen und HausbesitzerInnen gründet die Bürgerinitiative „Bremens Brücken kopfsteinpflastern!“. Damit keine RollstuhlfahrerInnen gegen ihr Vorhaben protestieren können, verbarrikadieren sich die reichen Viertel-Eltern für ihre Plena in der Helenenstraße hinter einer neu errichteten Mauer nur aus Kopfsteinen. Dank Einfluss und Kaufkraft kommt die Gesetzesvorlage im Eilverfahren durch Depu und Bürgerschaft. Zur Bestechung seien mehrere Mietverträge an studentische Kinder von Abgeordneten vergeben worden, wie es aus gut informierten Kreisen heißt.

23. Juli: Der Aussichtsturm im Lankenauer Höft stürzt ein, nachdem die AfD versucht, ein gastronomisches Versorgungsproblem durch einen unterirdischen Schweinestall zu lösen. Frank Magnitz macht die Partei Die Linke dafür verantwortlich: „Das waren die G20-Chaoten!“ Dann kündigt er an, einen neuen Kuppelturm zu bauen, den er „Germania“ nennen will.

24. Juli: Das Bauressort kippt die Pläne für eine Kuppel am Lankenauer Höft als baurechtlich und architektonisch „nicht durchführbar“. Als Magnitz davon erfährt, spricht er von „einem Dolchstoß“.

3. August: Zu Beginn des neuen Schuljahrs fehlen 759 Plätze. „Halb so wild“, sagt die krisenerprobte Bildungssenatorin Bogedan, „nichts, was man nicht mit ein paar Smartphones und Virtual-Reality-Brillen in den Griff bekommen könnte.“ Glücklicherweise habe man bereits die passende VR-Software in der Cloud. Name: „Städtische Schule“ – für eine realistisches Erlebnis des bremischen Bildungssystems sind die Lehrkräfte unverbeamtet, fachfremd oder VertretungslehrerInnen, die in Niedersachsen durchs Referendariat gefallen sind. „Die Schüler werden kaum einen Unterschied merken“, heißt es in einer Pressemitteilung, die mit „Schule 4.0 – keine Brückentechnologie“ überschrieben ist. Besonders stolz sei man auf die Bonus-Level „Nachsitzen“, „Mobbing auf dem Pausenhof“ und das versteckte Level „Heimlich rauchen“.

16. August: In der Weserburg startet eine von Janneke de Vries eröffnete Rekordschau zum Thema „Brücken“. Zu sehen sind Teppiche, Zahnersatz und deutsche expressionistische Malerei.

31. August: Um sich „gegen Dolchstöße von Grünen und Sozialdemokraten zu wehren“, beauftragt die AfD eine in jägergrünen Loden gekleidete und mit in Fraktur bedruckten Armbinden gekennzeichnete Truppe zur Sicherung des Lankenauer Höfts unter der Bezeichnung „Schutz-Abteilung“.

2. September: Bei der Listenaufstellung der Grünen hilft ein von Wilko Zicht ausgetüfteltes Verfahren, das eine multiple Quotierung nach männlich, weiblich, unbestimmt, junggrün und entsprechende Kombinatoriken ermöglicht. Matthias Güldner sagt bei seiner Kandidaturrede um Platz 2, dass er „doch nicht antritt“, weil er findet, dass Linnert nicht mehr antreten sollte, und er „daher mit gutem Beispiel vorangeht“. Hermann Kuhn bewirbt sich um den für Junggrüne quotierten Platz, weil „Alter überschätzt“ werde. Helga Trüpel will kein Amt mehr, also will sie ein Mandat: Sie kandidiert für den ersten Platz.

17. September: Nachdem das Abtreibungswerbeverbot bundesweit außer Kraft ist, will der Bremer Senat mit einer Werbeoffensive den Hebammenmangel sowie den Platzmangel in Kitas und Schulen bekämpfen. „Wir können mit einer Abtreibung gleich drei Probleme lösen“, sagt ein Mitarbeiter des Senats, der anonym bleiben will. Kurz darauf scheitert ein Selbstmordanschlag einer evangelikalen Lebensschützerin vor einer Frauenarztpraxis nur knapp an moralischen Bedenken.

2. Oktober: Die SPD hat ihre Liste streng quotiert: die ersten 40 Plätze für Männer, die anderen 40 für Frauen, „damit das Personenwahlrecht nicht die Quotierung durcheinander bringt“, wie Björn Tschöpe und Sascha Karolin Aulepp erklären.

13. Oktober: Bremen schafft überraschend seine Klimaziele, weil die Sperrung der Weserbrücken dazu geführt hat, dass die Mehrheit der AutofahrerInnen auf Zweirad und Paddelboot umgestiegen sind. Damit sind die einzigen Autofahrten, die innerhalb von Bremen noch stattfinden, dreiminütige SUV-Fahrten zu ein paar verbliebenen nicht-virtuellen Kindertagesstätten.

9. November: Die AfD veranstaltet einen „langen Marsch mit klingendem Spiel“ von der Stapelfeldstraße zur Schwachhauser Heerstraße.

18. November: Der Verfassungsschutz entschließt sich, „künftig offiziell zu prüfen, die AfD zu beobachten“. Beim Marsch am 9. November „scheint das Lied ‚Unsere Fahne flattert uns voran‘ gesungen worden zu sein“, erläutert VS-Präsident Schittkowski die Entscheidung, „das im Verdacht steht, als nationalsozialistisch eingestuft werden zu müssen“.

19. November: Die Fraktionsvorsitzende der Linken, Kristina Vogt, lobt die Entscheidung des Verfassungsschutzes und sagt: „Da würde ich mir sogar wünschen, dass der VS einen Schritt weiter ginge.“ Daraufhin strengt Felix Pithan ein Parteiausschlussverfahren gegen die Fraktionsvorsitzende an: „Die Linke fordert die Abschaffung des VS“, erklärt er. „Dann können wir nicht gleichzeitig den Verfassungsschutz loben und sogar die Ausdehnung seiner Tätigkeit fordern. Das ist für mich der Inbegriff parteischädigenden Verhaltens.“

23. November: Die CDU wählt Elisabeth Motschmann als Spitzenkandidatin. „Wir haben niemand besseres“, sagt Thomas Röwekamp, „außer mir, aber ich will mir nicht die Nase blutig schlagen.“ Nicht vor Ort ist Jens Eckhoff. Nachdem funktionsuntüchtige Abhörgeräte in seinem Büro gefunden wurden, ist er zum „Akku aufladen“ in Südafrika, trinkt laut seiner Website „guten Rotwein“ und genießt „kulinarische Delikatessen“ – „frittiert sind Wanzen sehr viel leckerer als sie aussehen“, so der „Runde mit Ecken und Kanten“ (jenseckhoff.de).

30. November: Bei der Linken gibt es einen trotzkistischen Putsch unter Leitung von Sebastian Rave, der zudem ankündigt, statt zur Wahl zur direkten Revolution überzugehen und sich auch künftig nicht zu rasieren.

1. Dezember: Die VS reicht die Liste der AfD ein.

19. Dezember: Der Ostkurvensaal im Weserstadion wird nachts überfallen und mit Hakenkreuzen sowie den Namen „Standarte 88“ und „Nordsturm Brema“ beschmiert. Die Polizei Bremen schließt einen politischen Hintergrund zunächst aus.

30. Dezember: Die Teerhofbrücke stürzt unter der Last von zu vielen FußgängerInnen ein, die sich nachts zur Weserburg-Rekordschau schleichen wollten. Unter den Toten befinden sich keine LKWs.

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