Voyeuristische Sportfotografie: Was Japan gegen heimliches Filmen unternimmt
Nicht nur in Japan, aber vor allem da, wird in Zeiten der sozialen Medien ein Problem erkannt: die voyeuristische Sportfotografie.
Als Saki bei Wettkämpfen Erfolge erzielte, nahmen die Belästigungen noch zu. „Ich erhielt täglich vulgäre Nachrichten wie ‚Ich zahle dir 4.000 Yen (23 Euro) für ein Video von deinem Hintern.‘“ Saki liebte das Laufen seit ihrer Kindheit, aber nun fühlte sie sich unwohl. „Es gab viele Kommentare wie ‚Es ist deine Schuld, dass du dich so anziehst‘, oder ‚Frauen sind im Sport nicht so gut wie Männer, deshalb müssen sie sich zeigen, um beliebt zu sein‘. Ich wusste, dass es solche Leute gibt, aber ich war schockiert, dass es so viele sind.“
Die Zahl von Opfern wie Saki geht in die Tausende, wie eine neue Umfrage des japanischen Leichtathletikverbandes vermuten lässt. Danach berichtete jeder siebte Trainer, dass seine Schützlinge, darunter auch Grundschüler, beim Training und im Wettkampf heimlich mit sexueller Absicht fotografiert worden seien. In einigen schweren Fällen, wo Fotos auf pornografischen Webseiten auftauchten, wandten sich die Trainer an die Polizei. Das Ergebnis der Umfrage bewies, dass Sportlerinnen und Sportler in Japan immer noch nicht vor voyeuristischen Fotografen sicher sind.
Rückblende: Als solche sexuellen Belästigungen in den Jahren vor den Olympischen Spielen in Tokio 2020/21 immer mehr zunahmen, beschwerten sich mehr Betroffene beim Leichtathletikverband. Darauf begannen Sportfunktionäre, sich um den guten Ruf von Japan zu sorgen. Japans Olympisches Komitee reagierte und versprach im November 2020 gemeinsam mit anderen Sportverbänden Maßnahmen gegen den Voyeurismus.
Spezielles Personal
Seitdem reservieren viele Veranstalter von Sportveranstaltungen bestimmte Bereiche für Fotografen, um mögliche Übeltäter leichter zu identifizieren. In Leichtathletikstadien und Volleyballhallen hängen Plakate mit dem Aufruf „Melden Sie Voyeurismus und böswillige Beiträge in sozialen Netzen dem Veranstalter“. Über einen aufgedruckten QR-Code kann jeder schnell einen Hinweis geben. Spezielles Personal hält Ausschau nach möglichen Tätern, Hinweisschilder warnen die Eltern von jungen Athletinnen und Athleten vor der Gefahr.
Solche Fotovoyeure gibt es in Japan nicht nur im Sport. Das verbreitete heimliche Fotografieren unter Röcken führte dazu, dass alle Handys in Japan bei jeder Fotoaufnahme ein hörbares Knipsgeräusch machen, selbst im Lautlosmodus, damit Betroffene und ihre Umgebung den Upskirting-Angriff bemerken können. Die Mobilfunkbetreiber haben sich selbst dazu verpflichtet, ihre Geräte so auszuliefern, dass sich das Knipsgeräusch nicht ausschalten lässt.
Diese Neigung zum heimlichen Beobachten könnte historische Wurzeln haben. In der Edo-Zeit inszenierten Bordelle und das Kabuki-Theater voyeuristische Momente. Erotische Farbholzschnitte, Shunga, zeigen häufig Szenen, bei denen eine Figur andere heimlich beim Liebesakt beobachtet. Manche Shunga nehmen die Perspektive eines Betrachters ein, der durch ein Loch in der Wand oder einen Spalt in der Schiebetür zuschaut. Während der Heian-Zeit um die erste Jahrtausendwende war Voyeurismus ein literarisches Motiv, weil die Begegnungen zwischen Männern und Frauen nach strengen Regeln abliefen. Das „Sehen, ohne gesehen zu werden“ beschrieben Literaten als intensiven Reiz, vor allem, wenn es nur Teile des Körpers oder die Kleidung betraf.
Im Unterkörperbereich
Japans Gesetzgeber stellte aufgrund des öffentlichen Drucks vor zwei Jahren das Aufnehmen voyeuristischer Bilder zu sexuellen Zwecken von Geschlechtsteilen, Unterwäsche und obszönen Handlungen unter Strafe. Doch die Paragrafen decken den Sport nicht ab, weil es juristisch schwierig ist, die sexuelle Absicht beim Aufnehmen von Sportlerinnen und Sportlern nachzuweisen. Die Gesetzeslücke bedeutet aber nicht, dass die Täter freie Hand bekamen, da Verordnungen auf regionaler Ebene möglich bleiben. Die Polizei von Kyoto etwa erwischte mehrere Männer dabei, Leichtathletinnen gezielt im Unterkörperbereich zu fotografieren. Als Motiv gaben sie an, „ihre sexuelle Lust befriedigen zu wollen“.
Fukuoka definierte im Frühjahr 2024 als erste Region in Japan das heimliche Filmen von Sportlern als Sexualstraftat und untersagte das Filmen von Personen ohne deren Einwilligung zu sexuellen Zwecken in Schulen und Sportstätten, unabhängig davon, ob diese bekleidet sind oder nicht. Es sind keine Strafen vorgesehen, aber durch klare Formulierungen versucht Fukuoka ein Klima zu schaffen, in dem Betroffene und Umstehende verdächtige Personen leichter melden können. Bei Wettkämpfen machen die Veranstalter entsprechende Durchsagen und kontrollieren die Einhaltung.
Die Maßnahmen sollen die Öffentlichkeit erziehen. „Es ist wichtig, in der gesamten Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das heimliche Filmen von Sportlern nicht toleriert wird“, meinte der Sportsoziologe Osamu Takamine von der Meiji-Universität. Der Kulturwandel hilft auch den Opfern, die Angriffe abzuwehren.
Frei trainieren
Die 15-jährige Mittelschülerin Shurei Doruri überholte beim nationalen Frauen-Staffellauf auf ihrer 3-Kilometer-Etappe 17 Läuferinnen und stellte einen neuen Streckenrekord auf, sodass sie plötzlich ins nationale Rampenlicht geriet. Daraufhin wurde sie überall ungefragt fotografiert und bekam psychische Probleme. Sie antwortete offensiv. „Ich kann nicht mehr so frei trainieren wie früher und möchte, dass die Leute davon absehen, mich zu filmen und anzufeuern“, teilte sie mit und sagte ihre Teilnahme an den Crosslaufmeisterschaften ab.
Ihr Anwalt berichtete: „Sie war schockiert und fühlte sich unwohl, in welcher Rolle sie fotografiert wird.“ Nach ihrer Erklärung gingen die Fälle heimlicher Film- und Fotoaufnahmen zurück. Einige Monate später begann Doruri wieder zu laufen und brach bei den Oberschulmeisterschaften über 1.500 Meter der Frauen den Rekord in ihrer Altersklasse.
Auch eine neuartige Sportkleidung erschwert Voyeuren das Geschäft. Der Sportartikelriese Mizuno entwickelte einen Stoff, der für Infrarotstrahlen blickdicht ist. Bei den Olympischen Spielen in Paris trugen die japanischen Frauenmannschaften im Volleyball, Tischtennis und Hockey Trikots aus diesem Stoff. Nun gibt es diese Anti-Voyeur-Kleidung auch für Läuferinnen. Tiefer geschnittene Ober- und Unterteile legen weniger Haut frei. Eine Oberschülerin lobte nach einem Probelauf: „Der Bauch ist bedeckt, was mir ein Gefühl der Sicherheit gibt. Ich fühle mich weniger beobachtet.“
Der japanische Turnverband probierte unterdessen einen anderen Weg aus, nachdem man über 20 Jahre lang das Fotografieren bei Turnwettkämpfen komplett verboten hatte. Die oft jungen Turnerinnen in hautengen, knappen Trikots locken besonders viele Voyeure an. Doch beim NHK-Turnpokal vor zwei Jahren verkaufte der Verband 50 Pauschalpakete zu je 60 Euro, die neben einem Sitzplatz mit Fotografierrecht eine Broschüre mit Erklärungen zu voyeuristischer Fotografie und eine Diskussionsrunde mit Funktionären enthielten. 59 der 60 Pakete wurden verkauft. Bei anderen Wettkämpfen kostete eine Fotoerlaubnis 6 Euro. Interessenten mussten sich vorab registrieren.
Ein Sport, der begeistert
Der Turnverband änderte seine Politik nicht nur aus finanziellen Gründen – nach Olympia in Tokio rutschte man wegen geringerer Zuschüsse in die roten Zahlen. „Turnen ist ein Sport, der begeistert und die unendlichen Möglichkeiten des Menschen zum Ausdruck bringt. Das wollen wir mehr Menschen vermitteln“, erklärte Verbandschef Koichi Endo. „Fotos von Wettkämpfen zeigen auf einen Blick, wie hart die Athleten trainiert haben, und das sieht cool aus.“ Bilder und Videos müssten aktiv in den sozialen Medien verbreitet werden, um den Sport populärer zu machen.
Doch Geschäftsleute im Internet wollen mit unangemessenen Fotos Geld verdienen. Sie erwerben sie von Dritten, um sich selbst nicht strafbar zu machen, und verkaufen sie anschließend weiter. Die hohen Klickraten bringen den Webseitenbetreibern hohe Werbeeinnahmen ein. Einige Onlineshops spezialisieren sich auf Fotos von Mittel- und Oberschülern bei Sportwettkämpfen für Männern mit pädophiler Neigung.
Für seine Dokumentation befragte der Sender NHK einen Shopbetreiber anonym, ob er keine moralischen Bedenken habe. „Ich halte Bilder von bekleideten Frauen für unproblematisch. Selbst wenn Unterwäsche zu sehen ist, kann der Fotograf zwar vor Ort festgenommen werden, aber der Verkäufer wird wohl nicht bestraft werden. Es ist unmöglich, alles zu löschen“, lautete seine ungenierte Antwort. Der Betreiber fühlte sich auch sicher, weil es bei vielen Fotos Ansichtssache ist, ob sie obszön sind oder nicht. Die Polizei setzt den Hebel daher bevorzugt beim Urheberrecht an, wenn etwa TV-Aufnahmen ohne Genehmigung verkauft werden. Auf diese Weise konnte sie Webseiten schließen.
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