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WDR-Hörspiel über Gewalt in BeziehungDie Abgründe von Nähe

„Nixe“ erzählt von einer queeren Beziehung, die gewalttätig wird. Ein Porträt über die Autorin Tia Morgen und warum sie diesem Tabu eine Stimme gibt.

Für sie ist Schreiben eng mit Lesen verbunden: Autorin Tia Morgen Foto: Clara Renner

Irgendwo zwischen Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen wohnt Tia Morgen – ihre „Oase“, wie sie sagt. In der Küche bereitet sie Matcha Latte zu, wiegt das Pulver ab, verrührt eine cremige Paste, erzählt. Von diesem Glücksgriff auf dem Berliner Wohnungsmarkt, seit einem Jahr lebe sie nun mit ihrer Beziehungsperson hier.

Tia Morgen gibt eine Tour, im Flur vorbei an etwa 14 Paar kniehohen Stiefeln in mannigfaltigen Farben und Lacken. Ordentlich stehen sie aufgereiht auf dem Boden.

„Hier ist unser Studio“, sagt Morgen und zeigt in einen großen Raum mit einem Laptop und geöffnetem Schnittprogramm, Kabeln und Boxen sowie einer großzügigen Kleidernische. Vom letzten Video-Shooting liegen noch seidige Stoffe auf dem Boden – nixenhaft schimmernd.

In kreativen Phasen schläft sie manchmal nur bis vier oder fünf Uhr, weil Projekte wie „Nixe“ in ihrem Kopf kreisen, sie aufstehen und arbeiten will. „Dann sitze ich im Pyjama und mit Tee hier.“ Kernstück war für sie immer das Schreiben. Schon als Kind schrieb sie, in der Schule gewann sie einen Schreibwettbewerb. Daran geglaubt, dass sie davon beruflich leben könnte, hatte sie nicht.

Hörspiel

Hörspiel „Nixe“, ab 5. Dezember in der ARD-Audiothek

„Ich kannte keine künstlerisch arbeitenden Menschen in meiner Kindheit.“ Aufgewachsen ist Tia Morgen im ländlichen Raum Bayerns, sie war die erste in der Familie, die auf ein Gymnasium ging. „Meine Eltern haben mir vorgelebt, dass Sicherheit im Job das Allerwichtigste ist.“ Sie aber studierte Psychologie, Anthropologie und Gender Studies in Dresden und Wien.

Zwei Coming-outs

Als Morgen mit 29 nach Berlin zog, fand sie Anschluss an die kreative Szene und die queere Community. „Ich hatte ein queeres Begehren, das ich lange nicht benennen konnte. Queer und künstlerisch zu arbeiten, das waren zwei Coming-outs“, sagt sie. Es sei mit viel Scham verbunden gewesen, weshalb sie in ihrer Arbeit dagegen anschreibt – auch in „Nixe“. Darin folgt sie Jara, gesprochen von Shari Asha Crosson.

Jara ist Anfang 30, recherchiert für ihren Podcast über physische und emotionale Gewalt in queeren Beziehungen und begegnet dabei ihrer ersten Liebe Tonia (Hannah Müller). Während sie Betroffene interviewt, erfährt sie ihre Geschichten mit Tonia selbst. So erzählt das Hörspiel auf mehreren Ebenen von einem tabuisierten Thema – und macht die Scham sagbar.

Im Wohnzimmer ein großes Bücherregal, bunte Vasen, Acryltische. Tia Morgen zieht ein Buch raus: „Kennst du das? ‚In the Dream House‘ von Carmen Maria Machado.“ Eine Geschichte über Gewalt in einer queeren Beziehung. Für Morgen ist Schreiben eng mit Lesen verbunden.

„Ich bin durstig nach guten queeren Geschichten, die es in Fülle so nicht gibt.“ Die Recherche für „Nixe“ zeigte das deutlich, bis sie Machados Buch fand. „Das Buch hat ‚Nixe‘ sehr beeinflusst“, sagt sie, betrachtet das orangene Cover.

Bereits in ihrer Hörspielserie „Desire“ war das Thema präsent. Dort ging es um Erfahrungen queerer Sexarbeiter*innen. „Mich interessiert die Auseinandersetzung mit kollektiven Erfahrungen, die immer auch singuläre sind.“

Auf dem rosa Sofa nippt sie an ihrem grünen Getränk und überlegt, warum Gewalt in lesbischen Beziehungen selten thematisiert wird: Frauen gelten weniger als Täterinnen, eher als sanftmütig und im schlimmsten Fall „zu dramatisch“. Außerdem steht die queere Community unter starken Vorurteilen, weshalb solche Geschichten oft verschwiegen werden.

Wie ein Gespräch unter Freun­d*in­nen

Selbst das Outing könne traumatisierend sein, das Leben in einer queeren Beziehung eine Entscheidung gegen die gesellschaftliche Normalität. „Dann noch zu sagen: ‚Meine Freundin hat mich geschlagen‘, erscheint vielen fast unmöglich. Man will keine Nestbeschmutzerin sein.“

Tia Morgen serviert Schokowaffeln. Draußen ist der Novembertag blau und wolkenlos. Es geht um „Nixe“. Morgen wollte die Produktion selbst übernehmen. Vom Casting, bei dem sie ausschließlich queere Stimmen wählte, über Regie bis Schnitt – und das hören wir. Es klingt wie ein Gespräch unter Freund*innen.

Der Sound wirkt verletzlich und unmittelbar. „Nixe zu konzipieren war intensiv“, sagt sie. Ähnlich wie ihre Protagonistin führte auch Morgen Interviews mit etwa zehn Betroffenen. Diese Erzählungen berührten sie, es seien Gefühle, die sie kenne.

Jara liebt Wasser. So wie Morgen als Kind. Damals war sie eine Wasserratte, machte sogar das Schwimmabzeichen Silber. Heute ist Wasser für sie etwas Angstbesetztes. Schwimmen im See empfindet sie als unangenehm, weil sie nicht weiß, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Eine diffuse Angst, die auch Jara in ihrer Beziehung zu Tonia spürt.

Tonia ist nicht nur Jaras Schwimmtrainerin, sondern auch gefestigt in ihrem Queersein. Jara ist ihrem Begehren unerfahren, verletzlich. Tonia zeigt ihr eine neue Welt. Heftig verliebt ziehen sie schnell zusammen und tauchen in eine Beziehung ein, die zu einem von der Außenwelt isolierten Kosmos wird. Anfangs überredet Tonia Jara, eine Verabredung mit ihrem besten Freund Henri abzusagen, später gibt Jara wichtige Jobtermine auf, obwohl sie für ihre Arbeit eigentlich brennt.

Morgen erklärt, ein Warnsignal für Gewalt in einer Beziehung sei oft die Befürchtung einer Eskalation, spürbar als dumpfes Bauchgefühl, ein Riss in der Stimmung. Im Hörspiel wird diese Angst von Wassergeräuschen begleitet: fließendes Rauschen oder ein undichter Wasserhahn, den Jara zu hören glaubt. „Wasser kann einen gefährlichen Sog bilden und dir zugleich aus den Fingern gleiten“, sagt Morgen.

Die Notwendigkeit der Eskalation

Weniger unterschwellig zeigen sich kleinere, dann größere Wutausbrüche, in denen Tonia impulsiv wird und Geschirr zertrümmert. Vor Henri versucht Jara, Tonias Verhalten mit ihrer schwierigen Vergangenheit zu rechtfertigen. In „Nixe“ braucht es die Eskalation, damit Jara aus dem Beziehungssystem ausbricht, das sie zunächst schützen wollte.

Nach dem zweiten Teil will man wissen, wie Jara die Spuren dieser Erfahrung trägt und wie sich die Verletzungen in neuen Beziehungen manifestieren. Auf dem Sofa stellt sich die Frage, wer in der Geschichte eigentlich die Nixe ist. Tia Morgen erwidert: „Das ist die Frage, wer ist eigentlich die Nixe von beiden?“

Nixen können vieles sein. Die Vorstellung einer verführerischen Sirene, die Männer in das Verderben zieht, führt zu anderen Schlüssen als „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen. Morgen las die Geschichte als Kind und erfuhr erst später von seiner queeren Lesart: „Es wird vermutet, dass Andersen schwul war“, meint Morgen.

Im Buch verliert die Meerjungfrau ihre Stimme, um Mensch zu werden und bei ihrem Prinzen zu sein. Auch Jara opfert sich, um Tonia nahe zu sein, und verliert sich dabei selbst.

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