WM-Star Thomas Müller: Ein Mann wie eine Volkspartei

Nett, weiß und heterosexuell: Der Nationalspieler Thomas Müller ist normal, lässig und die perfekte Projektionsfläche für deutsche Träume.

Und wenn er sich auf den Kopf stellt – die Deutschen lieben Thomas Müller Bild: ap

BERLIN taz | Als ein Fernsehunterhalter zu Thomas Müller sagte, er müsse jetzt aufpassen, dass er nicht zu einer „Legende“ werde, antwortete Müller ohne zu zögern: „Dann pass ich lieber nicht auf.“ Und dieses Mal zwinkerte er nicht in die Kamera. Solche Antworten sind es, die das deutsche Wohnzimmerpublikum glücklich aufstöhnen lassen. Dieser Müller aber auch!

Das Fachmagazin kicker hat das mehrheitsfähige Urteil in Worte gefasst: Müller überzeuge mit „Klasse, Toren und Humor gleichermaßen“. Er begeistere „die ganze Welt“. Damit wir uns gar nicht erst falsch verstehen: Nichts gegen Müller. Der beim FC Bayern München beschäftigte Fußballnationalspieler ist wirklich ein Solitär auf dem Platz, und er wirkt wie ein Solitär im öffentlichen Auftreten.

Meine Frage ist: Was sagt die kollektive Begeisterung über uns Begeisterte aus? Zunächst einmal identifiziert man sich mit dem Erfolg. In einer diffusen Gefechtslage und allgemeinem Gebrummel ist der vierfache Torschütze Müller bislang die sichtbarste Personifikation eines deutschen Siegers.

Gut, in dieser Woche ist Manuel Neuer dazugekommen. Aber bei den heutigen Unterhaltungsansprüchen funktioniert Neuer nur auf dem Platz. Sobald er redet, wird es langweilig. Dagegen ist selbst Uwe Seeler ein Entertainer. Müller wiederum, heißt es, habe „immer einen Spruch“.

Zwinkern bei der Hymne

Wenn jemand wissen will, ob er rund um die Uhr an Fußball denke, verweist er darauf, dass er nachts mehr zu schlafen und weniger zu denken pflege. Und beim Deutschland-Lied singt er nicht nur mit, sondern zwinkert dem Publikum zu, was nicht als Entwertung, sondern als Bereicherung empfunden wird.

Er kann sogar selbstironisch sein. Müller, das ist der zweite Punkt, befriedigt das Bedürfnis nach Fußball als Unterhaltung. Er sei ein „very funny guy“, sagte Mats Hummels zu US-Journalisten. „In Germany we call it Pausenclown.“ Aber das greift viel zu kurz.

Müller überwindet, das ist Punkt drei, mit seinen Sprechakten die Gleichförmigkeit und den braven Leckt-mich-am-Arsch-Konformismus der modernen Fußballprofis vom Typus Götze, Özil oder auch Reus. Er sprengt die Schabloneninterviews regelmäßig, wird dabei aber nie so pampig wie der sonst immer kreuzbrave Per Mertesacker am vergangenen Montag.

Er kommt nicht als strategischer Klassensprecher rüber wie Philipp Lahm und nicht als Klugscheißer wie Hummels. Und, nebenbei gesagt, er ist auch nicht so dunkel wie Jérôme Boateng. Müller hat Kanten, aber es sind wohlige. In der Regel tun sie uns nicht weh, allenfalls den anderen. Das ist state of the art.

Wenn man das will oder braucht, kann man wahnsinnig viel in Müller projizieren. Man kann ihn linksliberal verstehen, man kann ihn als negative und positive Projektionsfläche für Schwarz-Grün interpretieren, man kann ihn auch als Beruhigung in diesen schweren Zeiten der Globalisierung und der ganzen Unübersichtlichkeit verstehen.

Sicher, wir sind EUler und stehen auch dazu. Deutschsein ist obsolet oder normal. Jedenfalls, das beweist ja gerade unsere Nationalmannschaft, keine Frage des Bodens oder Blutes, sondern einzig des Passes und des patriotischen Bekenntnisses zu unserer Gemeinschaft.

Ordentliches Elternhaus

Trotzdem haben Menschen ja Gefühlsbedürfnisse. Nach Heimat, nach Übersichtlichkeit, nach Ordnung, nach Provinz, nach sexueller Einfalt, wo jetzt sogar schon Fußballer schwul werden oder so aussehen. Müller kommt vom TSV Pähl aus Oberbayern. Ordentliches Elternhaus.

Er trägt karierte Hemden und frisiert sich seine Augenbrauen bis heute nicht. In der D-Jugend ging er zum FC Bayern München, das ist 45 Autominuten entfernt. Mit 20 hat er Lisa geheiratet. Sie kommt aus seinem Dorf und ist dazu noch eine Frau.

Den Kernbereich des Fußballs betreffend, kann man Müller auch als Gegenentwurf zu Josep Guardiola und der ganzen Verfachlichung, Verwissenschaftlichung und Digitalisierung des Spiels benutzen. Müller in seiner Staksigkeit, Unberechenbarkeit und vermeintlichen technischen Limitiertheit erscheint jenseits des trainerdominierten Konzeptfußballs, jenseits jeder Taktik-App, jenseits des Playstationfußballs der Messis und Neymars und auch jenseits von Muskeln und Athletik.

Er bedient die kulturpessimistische Sehnsucht nach dem alten Fußball und danach, dass hier jeder ein Star sein kann, ob groß oder klein, ob dick oder dünn, wenn er es nur genug will. Es ist ironisch, dass Müller in Wahrheit die Komplexität der Fußballmoderne repräsentiert, einen laufstarken, taktisch aufmerksamen, hart gegen den Ball arbeitenden Offensivspieler, der zudem das Spezielle hat, nach dem die Jugendtrainer heutzutage fahnden. Aber was ist das?

Modern und flexibel

Auch die Experten tun sich schwer, das Besondere mit einem Wort oder einem Satz zu benennen, wenn die ausländischen Journalisten in Brasilien fragen, was denn nun eigentlich diesen Müller genau ausmache. Er ist kein Knipser wie Klose, er ist kein geschliffener Techniker wie Özil, aber er kann vorbereiten und abschließen, er kann auf dem Flügel spielen, in der Spitze und dahinter, er hat die Flexibilität und Mentalität, die Voraussetzung für Erfolg bei dieser WM ist. Er ist so modern und so flexibel und dadurch so konformistisch, wie wir alle sein sollen.

Er ist das, wovor wir Angst haben. Es merkt nur keiner. Müller ist der häufigste Nachname in Deutschland und Thomas einer der häufigsten Vornamen. Müller, das ist das Missverständnis, ist so normal wie wir. Und er ist so besonders wie wir.

Müller ist im Grunde eine Volkspartei, die noch viel breiter funktioniert als Merkel, weil die Projektion eine harmlose Modernität mit der illusionären Sehnsucht verknüpft, dass es mit dem Know-how von gestern weitergehen kann. 1970 und 1974 hatten wir doch auch einen Müller. Der war klein und dick. Und nun ist er groß und dünn. Das ist doch nun aber wahrlich genug an Veränderung.

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