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Waffenruhe im GazastreifenDer Gazastreifen bleibt ein Pulverfass

Trotz der Eskalation der letzten Tage positionieren sich Israel wie die Hamas für die zweite Phase der Waffenruhe. Als Nächstes soll Gazas Verwaltung verhandelt werden.

Deir al-Balah, Gazastreifen, 29. Oktober: Zeltlager nach einem Angriff der israelischen Armee Foto: Abdel Kareem Hana/ap
Karim El-Gawhary

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Karim El-Gawhary aus Kairo

Wieder einmal haben die USA die neueste Eskalation im Gazastreifen gedeckelt. Nach einem toten israelischen Soldaten in Rafah und darauffolgenden israelischen Angriffen mit über 100 toten Palästinensern in nur einer Nacht, erklärte die israelische Armee am Mittwochvormittag ihre Operation als beendet. Und auch wenn US-Präsident Donald Trump erneut erklärt, dass der Waffenstillstand halten wird, wachsen die Zweifel, ob die erste Phase des Gaza-Abkommens das tatsächlich auch tun wird. Denn längst ist noch nicht alles geschehen, was dafür vereinbart war.

Noch sind nicht alle Leichen der israelischen Geiseln geborgen. Am Wochenende wurde von der Hamas eine angeblich sechzehnte Leiche an Israel übergeben, von insgesamt 28, die laut Abkommen überstellt werden müssen. Doch nach der Identifizierung der Überreste stellte sich heraus, dass es sich um weitere Leichenteile von Ofir Tsarfati handelte – einer Geisel, die vor zwei Jahren von der israelischen Armee im Gazastreifen teilweise geborgen worden war.

Das israelische Außenministerium veröffentlichte außerdem ein Drohnenvideo, das wohl zeigt, wie Hamas die Überreste erneut vergräbt, um den Ort dann dem Roten Kreuz zu präsentieren. Das Rote Kreuz verurteilte das Vorgehen der Hamas.

Von israelischer Seite wird des Weiteren argumentiert, dass die Hamas die Überstellung der toten Geiseln verzögert, bevor die Diskussion um deren Entwaffnung beginnt. Die Hamas wolle Zeit gewinnen, um ihre Macht im Gazastreifen, auch gegen Rivalen, wieder voll zu etablieren.

Nahost-Konflikt

Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Die Hamas betonte dagegen weiter, dass sie sich dem Gaza-Abkommen verpflichtet fühlt und begründet die Verzögerung der Übergabe der Leichen damit, dass es schwierig ist, sie zu finden. Seit dem Wochenende ist auch ein ägyptisches Team mit schwerem Gerät im Gazastreifen im Einsatz, um bei der Suche und Bergung zu helfen. Genehmigt wurde das vom israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu persönlich. Es ist das erste Mal, dass an der Suche nach den Überresten der Geiseln eine andere Partei beteiligt ist, als die Hamas.

Auch Israel hält sich nicht an die Waffenruhe

Auch Israel hält die Bedingungen der Waffenruhe nicht ein. Noch vor der letzten Eskalation berichtete das Gesundheitsministerium in Gaza, dass seit Beginn des Waffenstillstands bereits 88 Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen getötet worden seien. Die israelische Armee argumentiert, dass diese sich Armeepositionen bedrohlich genährt haben sollen. Sie ist noch in über der Hälfte des Territoriums des Gazastreifens präsent. Oft haben die Menschen wohl versucht, in ihre Häuser in noch israelisch kontrolliertem Gebiet zurückzukehren. Es herrscht für viele Palästinenser Unklarheit, wo genau die Zone beginnt, die sie nicht betreten sollen.

Am 18. Oktober eröffnete beispielsweise ein israelischer Panzer das Feuer auf einen Bus, in dem eine Familie saß, die im Zeitoun-Viertel von Gaza-Stadt nachsehen wollte, was mit ihrem Haus geschehen war. Elf Mitglieder einer Familie wurde dabei getötet, darunter sieben Kinder. Die israelische Armee hat nun gedroht, das Territorium, auf dem sie im Gazastreifen präsent ist, auszuweiten – wenn Hamas die verbliebenen Überreste der Geiseln nicht zügig übergibt.

Ein weiterer Aspekt des Abkommens, der seitens Israel nicht eingehalten wird: Ausgemacht war, die Gaza-Hilfslieferungen wieder auf etwa 500 bis 600 LKWs am Tag hochzufahren. Doch davon sind die Lieferungen noch weit entfernt. „Wir sehen derzeit zwischen 220 und 250 LKWs. Es bräuchte mindestens 600 LKWs, wie in der Vorkriegszeit, um den Gazastreifen mit dem nötigsten zu versorgen. Bei der derzeitigen Notlage bräuchte es eigentlich 800 bis 900 LKWs am Tag“, sagt Roland Friedrich, der deutsche Koordinator des UN-Palästinenser-Hilfswerkes UNWRA, im Gespräch mit dieser Zeitung.

„Die Masse der Abfertigung laufe immer noch über einen einzigen Übergang in Kerem Shalom“, führt er aus. Es brauche dringend eine Öffnung der anderen Übergänge, fordert er. Daneben kämpfen die Hilfsorganisationen mit israelischen Restriktionen. Manche Güter – wie Windeln und Hygiene-Pakete für Frauen – dürften beispielsweise weiter nicht eingeführt werden, erzählt er. Und das, obwohl der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag letzte Woche in einem Gutachten noch einmal betont hat, dass Israel als Besatzungsmacht die Verpflichtung hat, die Bevölkerung zu versorgen.

Wer soll den Frieden sichern im Gazastreifen?

Trotz aller anhaltenden Hürden der ersten Phase des Gaza-Deals positionieren sich alle Seiten für die Gespräche um die Zukunft des Gazastreifens. Die USA haben eine sogenanntes „Ziviles und Militärisches Koordinationszentrum“ gebildet, das den Waffenstillstand überwachen und den Einsatz internationaler Truppen vorbereiten soll, die die Lage im Gazastreifen stabilisieren soll. Darin soll es auch eine deutsche, französische, britische, kanadische, griechische und jordanische Präsenz geben.

Im Gespräch ist auch, welche Länder internationale Truppen stellen könnten. US-Außenminister Marco Rubio betonte, dass daran nur Länder beteiligt sein sollten, mit denen Israel kein Problem hat. Einer der Stolpersteine scheint hier die Türkei zu sein, die sich grundsätzlich dazu bereit erklärt hat. Das stößt aber auf israelische Opposition. Das politische Problem dabei: Die Türkei ist zusammen mit Ägypten und Katar einer der Regionalstaaten, die im ägyptischen Scharm El-Scheich als Garant für die erste Phase des Abkommen zusammen mit Donald Trump unterschrieben haben. Um nicht selbst als verlängerte Arm der israelischen Besatzung angesehen zu werden, sollten bei der geplanten internationalen Truppenpräsenz auch arabische und islamische Länder beteiligt werden.

Die arabischen und islamischen Kandidaten fordern ein klar definiertes UN-Mandat. „Was ist das Mandat dieser Truppen?“, fragte etwa der jordanische König Abdullah in einem BBC-Interview. „Wir hoffen, dass es sich dabei um Sicherung des Friedens handelt und nicht um dessen Durchsetzung. Den dieses heiße Eisen wird niemand anfassen wollen“, erklärte er.

Welche Rolle die Palästinenser selbst spielen sollen

Auch andere Pläne für die zweite Phase dringen an die Öffentlichkeit. Die USA arbeiten zusammen mit Israel an einem Plan, den Gazastreifen in zwei Teile aufzuteilen. In dem von der israelischen Armee kontrollierten Teil soll der Wideraufbau bald beginnen. Im anderen soll das erst geschehen, wenn die Hamas dort die Kontrolle abgegeben hat. Ein Schritt, der mit einem Zuckerbrot die Bevölkerung in Gaza dazu bringen soll, sich endgültig von der Hamas abzuwenden.

Die Hamas bereitet sich allerdings ebenfalls auf die zweite Phase des Abkommens vor. Für die zukünftigen Verhandlungen soll eine gemeinsame palästinensische Position gefunden werden. Dazu diente auch ein sogenanntes palästinensisches Dialog-Treffen, das letzten Freitag in Kairo stattfand. Hamas hatte sich dort mit anderen palästinensischen Parteien zusammengesetzt, unter anderem auch mit Vertretern der palästinensischen Autonomiebehörde.

In einer gemeinsamen Erklärung wurde beschlossen, darauf hinzuarbeiten, dass die Hamas im Gazastreifen ihre Verwaltungsmacht an eine Regierung palästinensischer Technokraten übergibt. Alle palästinensischen Seiten seien dem Waffenstillstand verpflichtet und wollen darauf hinarbeiten, die Blockade des Gazastreifen zu beenden, heißt es in der Kairoer Erklärung.

In einem Interview mit dem katarischen Fernsehsender Al-Jazeera erklärte der oberste Hamas-Unterhändler Khalil Al-Haya anschließen: Es gäbe keine Einwände, „alle administrativen Zuständigkeiten in Gaza einschließlich der Sicherheitsverantwortung an eine technokratische Regierung zu übergeben.“ Man sei sich einig, dass internationale Truppen die israelische und palästinensische Seite trennen und die Waffenruhe überwachen sollen. Und „die Aufgabe dieser internationalen Mission“ soll darin bestehen, „den Wiederaufbau Gazas zu ermöglichen“. Sie dürfe aber nicht der verlängerte Arm der israelischen Besatzung sein.

Zur Frage der Entwaffnung der Hamas, die im Gaza-Abkommen ebenfalls festgeschrieben steht, bliebt der Hamas-Unterhändler vage: „Unsere Waffen sind an die Existenz der Besatzung gebunden“, sagte er. „Wenn die Besatzung endet, werden diese Waffen dem Staat gehören.“ Die Frage der Waffen werde noch mit den palästinensischen Fraktionen und internationalen Vermittlern besprochen.

Netanjahu möchte keinen palästinensischen Staat

All das widerspricht der Position der israelischen Regierung. Netanjahu möchte die Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen behalten. Im Moment ist im Gespräch, die derzeit 52 Prozent des Territoriums des Gazastreifens, das von der israelischen Armee kontrolliert wird, auszuweiten. Israels Premier Benjamin Netanjahu möchte keine Beteiligung der palästinensischen Autonomiebehörde an der Verwaltung des Gazastreifens. Er möchte verhindern, dass nur der Anschein entsteht, der Deal könne am Ende in einem palästinensischen Staat münden.

Nun ist es an den USA und an den regionalen Garantie-Staaten Ägypten, Türkei und Katar, Druck auf alle Seiten auszuüben: Dass die Bedingungen der ersten Phase des Abkommens tatsächlich eingehalten werden und dass es dann ernsthafte Verhandlungen über die zweite Phase gibt. Denn eines haben die ersten drei Wochen der ersten Phase und vor alle die letzten Tage deutlich gemacht: Der Status quo – in dem die israelische Armee in mehr als der Hälfte Gazas präsent ist und Israel Hilfslieferungen nicht ausreichend zulässt, und die Hamas die Rückführung der toten Geiseln verzögert – ist nicht nachhaltig. Und macht den Gazastreifen zu einem unberechenbaren Pulverfass.

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1 Kommentar

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  • "Manche Güter – wie Windeln und Hygiene-Pakete für Frauen – dürften beispielsweise weiter nicht eingeführt werden"

    Dafür lässt die IDF private Logistikfirmen in den Gazastreifen fahren, um dort ihren Schutt und Müll abzuladen. Die Berge türmen sich so hoch, dass sich sogar Israelis auf der anderen Seite beschweren.

    www.haaretz.com/ga...0#comments-section