Waffenruhe in Nordsyrien: Koalition der Weitsichtigen gesucht

Die Waffenruhe in Nordsyrien bietet eine Chance. Europa muss sie nutzen und den Kriegsparteien eine Kontrolle der geplanten Pufferzone anbieten.

Mike Pence, Vizepräsident der USA, steigt aus seinem Regierungsflugzeug

Mission accomplished? Mike Pence handelte zumindest eine temporäre Waffenruhe aus Foto: dpa

Waffenruhe in Nordsyrien? Klingt gut. Dabei handelt es sich jedoch nur um ein Zeitfenster von fünf Tagen, wenn sie denn hält, in denen gelingen muss, was monatelang nicht geklappt hat: eine Lösung für das syrisch-türkische Grenzgebiet zu finden, der alle zustimmen können. Der Türkei die 30 Kilometer tiefe Zone kampflos zu überlassen, damit sie dort 2 Mil­lio­nen syrische Geflüchtete ansiedelt, kommt für die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und ihre politische Partei, die Partei der Demokratischen Union (PYD) nicht infrage.

In dem Gebiet liegen Zentren kurdischer Selbstverwaltung wie Qamishli und Kobane, die aus Sicht der Kurden nicht als türkische Protektorate enden sollten. Die YPG sind nur bereit, sich von der Grenze zurückzuziehen, wenn die Region von Verbündeten kontrolliert wird. Die entscheidende Frage ist deshalb: Wer übernimmt, wenn die kurdischen Milizen abziehen?

Vier Akteure kommen infrage. Die USA, die auf dem Absprung sind. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad, das bereits in den Nordosten vorrückt. Russland, dessen Militärpolizei sich als Puffer zwischen Assad-Regime und die Türkei stellt, um eine Eskalation zu verhindern. Oder eine von Europäern geführte Beobachtermission, die bislang an deren Unentschlossenheit scheitert.

Das zurzeit wahrscheinlichste, aber schlechteste Szenario ist die Rückkehr des Regimes. Sie würde das Ende kurdischer Autonomie und zivilgesellschaftlicher Arbeit im Nordosten bedeuten. Mit ihrer nationalistischen Baath-Ideologie würde die Führung in Damaskus das neue Selbstbewusstsein der Kurden zerschlagen und Assad-treuen arabischen Stämmen zu mehr Einfluss verhelfen. Das Grenzgebiet würde arabisiert, die Kurden mit kulturellen Rechten abgespeist. Assad-kritische Aktivisten müssten vor Verhaftung und Zwangsrekrutierung fliehen.

Ausländische Dschihadisten als Druckmittel

Auch IS-Angehörige haben Angst vor dem Folterregime in Damaskus und wollen weg, bevor Assads Schergen ihre Camps übernehmen. Seine Geheimdienste könnten die ausländischen Dschihadisten als Druckmittel benutzen, um vom Westen Geld für den Wiederaufbau und eine Normalisierung der Beziehungen zu erpressen. Assad in Rojava bringt also entrechtete Kurden, mehr Geflüchtete und unkontrollierbare Terroristen.

Trotz der vereinbarten Waffenruhe für Nordsyrien hat die türkische Luftwaffe laut Aktivisten dort erneut Luftangriffe geflogen. Bei dem Angriff auf das syrische Dorf Bab al-Cheir östlich der Grenzstadt Ras al-Ain seien am Freitag mindestens fünf Zivilisten getötet worden, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. (afp)

Sollte Russland allein den Deal zwischen Ankara, Damaskus und der PYD aushandeln, gewinnt am Ende ebenfalls Assad. Moskau will seine Interessen durchsetzen, ohne Verantwortung zu übernehmen, denn die kostspielige Rolle als Mandatsmacht kann sich Präsident Wladimir Putin nicht leisten. Statt russisches Militär dauerhaft im Grenzgebiet zu stationieren, wird er Assads Truppen einmarschieren lassen und Erdoğan zusichern, dass dadurch die Kurden eingehegt würden.

Mit den Amerikanern ist angesichts ihres irrlichternden Präsidenten nicht zu rechnen. Sie sind ja auch 10.000 Kilometer entfernt, im Gegensatz zu Europa, das für Geflüchtete und IS-Kämpfer in Reichweite liegt. Es kommt deshalb auf die Europäer an, die schnellstens eine „Koa­li­tion der Weitsichtigen“ bilden sollten. Staaten, die als Teil der Anti-IS-Allianz bereits militärisch präsent sind, darunter Frankreich, Deutschland und Großbritannien, müssten ihrem Nato-Partner Türkei die Kontrolle der geplanten Pufferzone anbieten. Europäische Soldaten wären in Syriens Nordosten willkommen – die Kurden fühlten sich geschützt, die YPG wären bereit zum Rückzug, ihre Partei PYD ließe sich zu mehr „good governance“ bewegen: Mehr Meinungsfreiheit, Raum auch für andere Akteure.

So etwas nennt sich Vision. Etwas, wozu Europa im Syrien-Konflikt bislang nicht fähig war. Jetzt bietet sich eine letzte Chance. Ankara versteht die Waffenruhe nicht als Ende, sondern Unterbrechung seiner Offensive. Sollte Erdoğan mit Hilfe seiner Islamisten-Söldner das Grenzgebiet besetzen, wäre die Region verloren – für die Kurden, für die syrische Zivilgesellschaft und für Europa.

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