Wahl in Brasilien: Die Herausforderin

Die Umweltschützerin Marina Silva will Präsidentin werden. Dass sie nicht für eine bestimmte Gruppe oder Klasse steht, macht sie attraktiv für die Wähler.

Gut argumentierend, kraftvolle oft heisere Stimme: Marina Silva ist eine überzeugende Rednerin. Bild: Ueslei Marcelino / Reuters

RIO DE JANEIRO taz | Der „dritte Weg“ soll in Brasilien einen Namen bekommen: Marina Silva. Weder machtversessen noch korrupt, nicht linksreformistisch und auch nicht liberal-konservativ. Einfach anders, für eine „neue Politik“ stehend, so die meistgebrauchte Selbstbeschreibung von Marina und den Marinistas, ihren Anhängern. Sie grenzt sich ab vom alten Politikgeschäft, hat es aber schwer, das Neue zu definieren. Denn als Präsidentschaftskandidatin ist sie Teil dieses Geschäfts.

Marina Silva beeindruckt. Sie ist zierlich, fast schmächtig, und strahlt zugleich viel Kraft und Durchsetzungsvermögen aus. Bei Reden und Interviews bricht ihre Stimme oft, sie wirkt heiser, als ob sie schon zu lange gesprochen hat. Aber sie geht darüber hinweg, argumentiert, pocht auf ihre Aussagen und macht schon mit ihrer Stimme deutlich, dass sie weiterreden wird. Sie blickt in die Augen, freundlich, aber auch unnahbar. Marina ist kein Kumpel, eher berechnend. Wer ihr glaubt, mag sie – wer ihr nicht glaubt, fürchtet sie.

Regieren will sie „mit den Besten im Land, aus allen Parteien“. Das seit Langem de facto herrschende Zweiparteiensystem ist Marina Silva zuwider. Manche Linke halten ihren dritten Weg für eine Mogelpackung, einen schönen Diskurs, hinter dem sich das alte erzkonservative Brasilien verbirgt. Viele Rechte befürworten die Initiative, nicht aus Überzeugung, sondern als Vehikel, um die Regierung von Dilma Rousseff loszuwerden.

Multikulti als Herausforderung

Am Sonntag, den 5. Oktober 2014 sind Wahlen in Brasilien. Neben der Präsidentschaft geht es auch um die Gouverneure der Bundesstaaten und die beiden Parlamentskammern.

In jüngsten Umfragen liegt Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT derzeit mit 38,1 Prozent klar vor der Kandidatin der linksliberalen PSB (Partido Socialista Brasileiro), Marina Silva, mit 33,5 Prozent und dem Vertreter des konservativen Lagers, Aécio Neves (PSDB) mit 14,7 Prozent. Damit käme es zwei Wochen später, am 19. Oktober, zu einer Stichwahl zwischen Dilma Rousseff und Marina Silva. Umfrageergebnisse zwischen diesen beiden Kandidatinnen legen ein sehr knappes Rennen nahe, mit leichten Vorteilen für Silva, die eher in der Lage scheint, die WählerInnen des dann ausgeschiedenen konservativen Kandidaten auf ihre Seite zu ziehen.

Aber reicht das, einen dritten Weg zu propagieren, der sich aus den Fehlern anderer speist und nicht mehr benötigt als den Appell an ein gerechtes Brasilien? Viel Streit und Diskussionen hat Marina Silva jedenfalls schon ausgelöst. Der Wahlkampf 2014 ist so verwirrend, so spannend wie schon lange kein Wahlkampf mehr in Brasilien war.

Marina wird, wie die meisten Politiker hier, nur mit ihrem Vornamen angesprochen, zumal ihr Nachname Silva im portugiesischen Sprachraum so wenig unterscheidet wie Müller in Deutschland. Sie ist weder weiß noch schwarz noch indigen. Schon äußerlich repräsentiert sie das Brasilien, das sich so gern als konfliktfreies Multikulti sieht. Das macht sie für viele sympathisch. Sie steht nicht für eine Gruppe oder Klasse, schon gar nicht für die weiße Oberschicht, die seit dem ersten Wahlsieg der sozialdemokratischen PT (Partido dos Trabalhadores) vor zwölf Jahren erfolglos versucht, wieder an die Macht und die Pfründen der siebtgrößten Wirtschaftsnation zu kommen.

Für Marina Silva ist Multikulti aber kein Markenzeichen, sondern eine Herausforderung: „Schwarze verdienen viel weniger als Weiße, Frauen viel weniger als Männer.“ Es gebe viele Ungerechtigkeiten, und der erste Schritt sei, diese zu erkennen und zu benennen. „Meine Regierung wird gegen die Benachteiligung der Schwarzen, der Indigenas, aller Minderheiten vorgehen. Und gegen die Diskriminierung der LGBT“, fügt sie hinzu, wobei nicht zu überhören ist, dass ihre Wahlkampfberater auf diesen Zusatz bestanden haben.

Die Pfingstkirchlerin

Ein heikles Thema für Marina und ihre kleine PSB (Partido Socialista Brasileiro), die über zehn Jahre einer der engsten Partner der Regierungskoalition war. Mehr Rechte für gleichgeschlechtliche Paare stand in der ersten Version ihres Wahlprogramms. Nur Stunden später hieß es, den Verfassern sei leider ein Fehler unterlaufen.

Der Grund hierfür sind Marinas streng konservative Familienwerte. Sie ist aktives Mitglied der Assembléia de Deus, einer der Pfingstkirchen Brasilien. Marina steht auch in der Politik dazu: gegen das Recht auf Abtreibung, für die Stärkung heterosexueller Partnerschaften und ihrer Familien. Sie trinkt keinen Alkohol und hat wenig Verständnis für eine moderne, akzeptierende Drogenpolitik. Diskriminierung von Schwulen kann sie natürlich nicht gutheißen, aber ihre religiösen Überzeugungen haben ihre politische Karriere vor einem Jahr schon mal an den Rand des Abgrunds gebracht: Zum Entsetzen ihrer Anhänger verteidigte sie den evangelikalen Abgeordneten Marco Felicinado, der per Gesetzesinitiative die „Heilung von Homosexualität“ ermöglichen wollte.

Marina ist aber keineswegs nur die Kandidatin der konservativen Moral. Ihre Beliebtheit hängt eng zusammen mit den Massenprotesten vom Juni 2013, als Hunderttausende für bessere öffentliche Dienstleistungen und gegen korrupte Politiker auf die Straße gingen. So diffus diese Bewegung war, so wenig lässt sich Marinas Unterstützerschaft eingrenzen. Es sind die Unzufriedenen der neu heranwachsenden Mittelschicht, von der regierenden Arbeiterpartei enttäuschte Intellektuelle, Teile der modernen Rechten, es sind Menschen, die noch mehr Wandel und Wohlstand wollen und glauben, dass das Modell Rousseff ausgedient hat.

Häufiger Parteienwechsel

Dieses Protestpotenzial hat Marina schon wenige Tage nach ihrer Kandidatur im August auf Platz eins in den Wahlumfragen katapultiert. Erst Mitte September konnte Amtsinhaberin Dilma Rousseff (PT) aufholen. Die Sensation beim ersten Wahlgang am kommenden Sonntag gilt als sicher: Marina wird den zweiten Platz schaffen und damit den Kandidaten der konservativen PSDB aus dem Rennen schmeißen. Für den zweiten Wahlgang Ende Oktober wird ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Frauen erwartet.

Das Wahlphänomen Marina gibt Rätsel auf. Schon vor vier Jahren erreichte die frühere Umweltministerin auf Anhieb 19 Prozent der Stimmen, als sie für die Grüne Partei das erste Mal für das Präsidentenamt kandidierte. Die Grünen verließ sie wieder, wie zuvor die PT, die sie einst mit aufbauen half. Als es ihr nicht gelang, ihre neu gegründete Bewegung „Rede Sustentabilidade“ – das Nachhaltigkeitsnetzwerk – als Partei zu registrieren, ging sie vergangenes Jahr zu den Sozialisten und wurde Vizekandidatin von Eduardo Campos. Das gemeinsame Erneuerungsprojekt kam aber nicht richtig in Gang, und als Mitte August Campos bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, trat Marina an seine Stelle. Als einzelne Person hat sie schon jetzt viel mehr Bedeutung als Campos, seine PSB und ihre heterogene Parteienkoalition zusammen.

Marina stammt aus sehr einfachen Verhältnissen. Als eines von elf Kindern wuchs sie in einer Familie von Kautschuksammlern in Acre auf. Die meisten Brasilianer kennen diesen nördlichen Bundesstaat nur von der Landkarte, er liegt buchstäblich am Ende der Welt. Im Alter von zehn Jahren begann sie als Gummizapferin zu arbeiten, später wurde sie Hausangestellte. Erst mit 16 Jahren lernt Marina lesen und schreiben. Ihren Wunsch, Nonne zu werden, gibt sie angesichts der finanziellen Notlage auf. Trotz bitterer Armut ihrer Familie gelingt es Marina zu studieren – Geschichte. Mit 26 Jahren wird sie Lehrerin, zehn Jahre später die jüngste Senatorin Brasiliens. Die Bedrohung ihrer Heimat, des Amazonaswaldes, macht die Mutter von vier Kindern zu einer aktiven Umweltschützerin.

Liberal oder sozial?

2003 wurde sie Präsident Lulas erste Umweltministerin – bis 2008, als sie sich mit Dilma Rousseff überwarf, die schon damals die nachholende Entwicklung vor ökologische Interessen setzte. Jetzt, mit 56 Jahren, ist Marina zur größten Bedrohung des gemäßigt linken Reformprojekts ihrer einstigen Partei und ihrer damaligen Widersacherin geworden. Entsprechend heftig geht es im Wahlkampf zur Sache. Die früheren Genossen halten Marina nicht nur ihre konservativen Werte vor. Sie attackieren vor allem ihr liberales Wirtschaftsprogramm.

Seelenruhig kontert Marina den Vorwurf, sie werde im Namen des Wirtschaftswachstums die Sozialhilfe abschaffen: „Meine ganze Familie hat gehungert, ein Sozialprogramm hat mir die Alphabetisierung ermöglicht. Wer so etwas erlebt hat, wird niemals Hilfen für die Armen kürzen“, erklärt sie mit überzeugender Stimme. Ihr stets nach hinten gekämmtes Haar unterstreicht dabei ihren strengen Gesichtsausdruck. Sie ist eine gewandte Rednerin, ihr Auftreten natürlich, charismatisch. Sie werde die Sozialprogramme eher ausbauen, aber keinen Klientelismus zulassen, beteuert sie.

Die Wählerinnen und Wähler werden nun darüber entscheiden, ob es den dritten Weg Namens Marina Silva geben wird. Die einflussreichen Massenmedien haben sie bereits zu ihrem Liebling erkoren, offenbar wird nur ihr zugetraut, die PT aus der Regierung zu vertreiben. Diese Unterstützung macht Marina verdächtig, denn die erzreaktionären Privatmedien haben kein Interesse an Experimenten und schon gar nicht an sozialer Gerechtigkeit. Die Kandidatin aber lässt sich nicht beirren: Sie will gewinnen und verfolgt ihr Ziel mit fast religiösem Eifer.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.