Wahl in der Türkei: Groß, größer, Istanbul

Istanbul hat eines der größten Wachstumspotentziale der Welt - sagen Experten. Ministerpräsident Erdogan hat deswegen große Pläne für seine Stadt.

Bauvorhaben: Ministerpräsident Erdogan will den Boom der Stadt nutzen. Bild: stop-sells / photocase.com

ISTANBUL taz | Poyrazköy ist ein Fischerdorf, so, wie es sein soll. Der Hafen ist ein bisschen schmuddelig und liegt voller Fischkutter, die von hier aus ins Schwarze Meer starten. Kein einziges Freizeitboot nimmt den Fischern den Platz weg, und in den zwei Restaurants an der Mole tauchen höchstens am Wochenende ein paar fremde Gesichter auf.

Die Bewohner von Poyrazköy bevorzugen den Teegarten oberhalb des Hafens. Der Ort liegt an einem steilen Hang, und der Teegarten ist zugleich der Ausguck aufs Meer und auf die in den Hafen ein- und auslaufenden Fischkutter. Den ganzen Tag über halten hier die alten Kapitäne die Stellung, wettergegerbte Rentner, die jetzt beobachten, was die Jungen anstellen. Kommt einer dieser Jung-Kapitäne ohne einen ordentlichen Fang zurück, hagelt es hämische Kommentare.

Doch die Fischbestände im Schwarzen Meer sind längst nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Und dass die Fischer immer häufiger mit leeren Netzen zurückkehren, liegt nicht unbedingt am Unvermögen der jüngeren Generation. Das wissen natürlich auch die Alten, und deshalb wird seit Monaten ein Projekt heiß diskutiert, das dazu führen würde, dass Poyrazköy schlagartig aufhört, ein Fischerdorf zu sein.

Poyrazköy liegt am Ausgang des Bosporus ins Schwarze Meer, auf der asiatischen Seite der Meerenge. Geht es nach den Plänen von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, soll hier einmal der rechtsseitige Pfeiler einer gigantischen Brückenkonstruktion stehen, die als dritte Brücke den europäischen Teil Istanbuls mit der asiatischen Seite verbinden soll.

Die Bewohner von Poyrazköy kommen bisher nur mit dem Bus nach Istanbul

Dabei ist hier, ganz im Norden des Bosporus, von Istanbul überhaupt nichts mehr zu spüren. So sehr die Metropole sich in den vergangenen Jahrzehnten ausgebreitet hat, am Ausgang des Bosporus ins Schwarze Meer herrscht noch die friedliche Atmosphäre der Provinz. Um von Poyrazköy in die Stadt zu kommen, muss man eine lange umständliche Busfahrt auf sich nehmen, weshalb nur wenige Besucher in das Fischerdorf kommen.

Mit einer dritten Brücke aber besäße Poyrazköy plötzlich einen Autobahnanschluss und würde zu einer begehrten Wohnlage. Die Alten im Teehaus liegen sicher nicht falsch, wenn sie darüber spekulieren, dass dort, wo jetzt Poyrazköy steht, in wenigen Jahren eine neue Satellitenstadt aus dem Boden gestampft wird. Fast alle im Dorf finden das gut, denn ihr Grund und Boden wird enorm an Wert gewinnen.

Allerdings wirft schon ein Blick auf die Karte die Frage auf, warum die geplante dritte Brücke ausgerechnet hier, ganz am oberen Ende des Bosporus gebaut werden soll. Die beiden bestehenden Brücken verbinden den inneren und äußeren Autobahnring der Stadt. Sie sind ständig überfüllt, in den Stoßzeiten morgens und abends gibt es jeden Tag stundenlange Staus.

Doch dort, wo die dritte Brücke gebaut werden soll, gibt es keine Stadt und auch keinen Verkehr. Stattdessen müssen erst neue Autobahnen gebaut werden, um die Brücke an das bestehende Verkehrssystem anzuschließen. "Diese geplante dritte Brücke ist eher ein Immobilien- als ein Verkehrsprojekt", sagt Orhan Esen, Stadthistoriker und Aktivist gegen die Zerstörung Istanbuls. Und er sagt: "Die neue Autobahn wird durch intaktes Waldgebiet gehen, das zurzeit nicht bebaut werden darf. Das wird sich mit der Autobahn natürlich ändern".

Istanbul ist laut Experten die lukrativste Stadt auf dem Immobilienmarkt Europas

Die dritte Brücke, so zitieren Istanbuler Zeitungen ortsansässige Makler, habe "ein Milliarden-Dollar-Potenzial". Überhaupt befindet sich die Istanbuler Immobilienbranche im Glückstaumel. Eine Studie der weltweit tätigen US-Immobilienberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers bescheinigt Istanbul, gegenwärtig die lukrativste Stadt auf dem europäischen Immobilienmarkt zu sein.

In einer anderen Studie, dem "Global Metro Monitor", in dem das Brookings Institut, die London School of Economics und die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft 150 globale Ballungszentren vor und nach der Weltwirtschaftskrise miteinander vergleichen, wird Istanbul sogar weltweit das größte Wachstumspotenzial bescheinigt.

Kein Wunder also, dass der türkische Ministerpräsident Erdogan die damit verbundenen ökonomischen Erwartungen für die bevorstehenden Wahlen am kommenden Sonntag nutzen will. In seinem Programm für die kommenden Jahre, publikumswirksam zum Auftakt des Wahlkampfes verkündet, steht Istanbul an erster Stelle.

Das wichtigste und größte Vorhaben, das er angehen will, er selbst nennt es "ein bisschen verrückt", ist ein gigantischer Kanal, der rund hundert Kilometer westlich des Bosporus das Schwarze Meer und das Marmarameer erneut miteinander verbinden soll.

Erdogan hat große Pläne für Istanbul

Zwischen Bosporus und Kanal entstünde dann quasi eine gigantische Insel, der künftige Großraum Istanbul. Als Dreingabe will Erdogan noch zwei neue Satellitenstädte für jeweils eine Million Einwohner an der jetzigen Peripherie der Stadt bauen lassen, eine davon soll in Reichweite der dritten Brücke auf der europäischen Seite des Bosporus entstehen.

Kritiker haben sofort zu Recht gefragt, welchen Sinn ein Kanal, der von seinen Ausmaßen mit dem Panamakanal vergleichbar sein soll, eigentlich haben könnte. Die Durchfahrt durch den Bosporus ist im Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 geregelt.

Die Türkei garantiert in dem Vertrag freie und ungehinderte Durchfahrt für die zivile Schifffahrt, nur Kriegsschiffe müssen sich vorher anmelden. Nun waren die Schiffe in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts noch wesentlich kleiner, und vor allem gab es noch keine Öltanker. Doch die Anrainerstaaten des Schwarzen Meers als Vertragsunterzeichner wollen natürlich keiner Modifizierung zu ihren Ungunsten zustimmen. Warum sollte also ein russischer Tanker, der frei durch den Bosporus fahren kann, hohe Gebühren für einen Kanal bezahlen?

Einwände gegen das Großprojekt

Erdogan und seine Anhänger argumentieren mit der Überlastung des Bosporus. Der Schiffsverkehr habe so stark zugenommen, dass Tanker und Containerschiffe mitunter tagelang auf die Passage warten müssen, was ebenfalls viel Geld kosten und der Kanal deshalb doch in Anspruch genommen würde. Gleichzeitig soll aber durch neue Ölpipelines die Zahl der Tanker die den Bosporus passieren, sowieso minimiert werden. Dies hebe sich gegenseitig auf, meinen die Kritiker des Projekts.

Hinzu kommen technische Einwände: Ziya Oglu, ein pensionierter Kapitän, der lange als Lotse auf dem Bosporus gearbeitet hat und die Strömungsverhältnisse zwischen Schwarzem und Marmarameer gut kennt, ist der Meinung, dass durch den Höhenunterschied zwischen Schwarzem und Marmarameer die Fließgeschwindigkeit in einem Kanal so groß wäre, dass Schiffe gar nicht manövrieren könnten.

Doch alle diese Kritiker verkennen das eigentliche Anliegen von Erdogan: Egal ob der Kanal jemals gebaut wird, allein das Projekt heizt den Immobilienmarkt in und um Istanbul weiter an. Eingeweihte Parteigänger hatten so die Möglichkeit, sich vor der öffentlichen Verkündung schon billig Land in dem Gebiet zu kaufen.

Schon Tage nach Erdogans Ankündigung gingen die Grundstückspreise westlich von Istanbul steil in die Höhe. Und wer Bescheid weiß, kann gegebenenfalls rechtzeitig wieder aussteigen, sollte sich der Kanal später doch nicht realisieren lassen. In kaum einem Sektor wird so schnell so viel Geld verdient wie mit Immobilienspekulation in einem boomenden Markt.

Die Türkei wird immer reicher

Seit Erdogan im März 2003 Ministerpräsident wurde, hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei verdoppelt, nach manchen Schätzungen sogar verdreifacht. Der Grund dafür, so wird immer wieder behauptet, sei die konsequente neoliberale Wirtschaftspolitik der islamischen AKP. Tatsächlich kann Erdogan, abgesehen von einem Einbruch im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 2008/09, auf stetig hohe Wachstumsraten von rund 6 Prozent verweisen.

Die Türkei ist in diesen Jahren zweifellos reicher geworden, doch dieser Reichtum ist sehr ungleich verteilt. In keinem Mitgliedsland der OECD sind die Unterscheide zwischen Arm und Reich so groß wie in der Türkei. Doch Erdogan profitiert davon, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus einem ehemaligen Bauernvolk ein Volk von Kleinunternehmer geworden ist. Und jeder Kleinunternehmer träumt davon, einmal ein Großunternehmer zu werden.

Beispiele dafür gibt es aus den letzten Jahren genug. Vor allem Firmen aus dem konservativen-islamischen anatolischen Kernland, die der regierenden AKP ideologisch nahestehen, haben mit Unterstützung des Staates rasante Karrieren hingelegt.

Unter Erdogan, das ist auch die Botschaft seiner Istanbul-Projekte, können Träume von Reichtum wahr werden. Das nächste Beispiel dafür werden vielleicht die Fischer von Poyrazköy. Sollten die Pläne für Istanbul tatsächlich realisiert werden, wird die Stadt, so haben Planer hochgerechnet, im Jahr 2025 von jetzt schon 15 Millionen auf dann ungefähr 25 Millionen Einwohner wachsen. Was das für die Lebensqualität ihrer Bewohner bedeutet, spielt in den Plänen keine Rolle. Das werden der Markt und Allah regeln.

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