Wahl zur Verfassungsrichterin: Frauke Brosius-Gersdorf kandidiert nicht mehr
Die Rechtsprofessorin erklärt, sie wolle „Schaden von der Demokratie abwenden“. Die SPD will nun eine neue Kandidatin vorschlagen.
Die Potsdamer Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf war von der SPD im Frühjahr als Nachfolgerin der bisherigen Karlsruher Vizepräsidentin Doris König vorgeschlagen worden. Die Union hatte dem Vorschlag zunächst auch zugestimmt, ebenso Grüne und Linke, sodass die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag gesichert schien.
1. Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung. Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion – öffentlich und nicht-öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU-Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab. Zudem droht ein Aufschnüren des „Gesamtpakets“ für die Richterwahl, was die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht gefährdet, die ich schützen möchte. Auch muss verhindert werden, dass sich der Koalitionsstreit wegen der Richterwahl zuspitzt und eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bis zuletzt an mir festgehalten. Sie stand uneingeschränkt vor und hinter mir. Für sie ist es eine Prinzipienfrage, dem Druck unsachlicher und diffamierender Kampagnen nicht nachzugeben. Großen Zuspruch und Rückendeckung habe ich auch von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie von der Bundestagsfraktion Die Linke erhalten.
2. Nach dem TV-Gespräch mit Markus Lanz hat sich die Berichterstattung in den Medien deutlich versachlicht und wurde sie ganz überwiegend inhaltlich geführt. Der CDU/CSU-Fraktion ist es dagegen nicht gelungen, sich mit meinen Themen und Thesen inhaltlich auseinanderzusetzen. Eine Einladung in eine Fraktionssitzung hat sie bis zuletzt nicht ausgesprochen. Stattdessen wurde mir vorgehalten, dass ich im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch folgenden Satz geschrieben habe: „Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“ Abgesehen davon, dass dieser Satz Ausdruck wissenschaftlicher Freiheit ist, die durch meine Nichtwahl sanktioniert wird, wurde die Begründung für diesen Satz nicht zur Kenntnis genommen. Nochmals zum Dilemma: Da die Menschenwürdegarantie nach herrschender Meinung nicht abwägungsfähig ist, wären bei Geltung der Menschenwürdegarantie für den Embryo ab Nidation Konflikte mit den Grundrechten der Schwangeren nicht lösbar. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre dann unter keinen Umständen rechtmäßig, auch nicht bei Gefährdung des Lebens der Frau. Es ist aber bestehende Rechtslage, dass ein Abbruch bei medizinischer (§ 218a Abs. 2 StGB) und kriminologischer (§ 218a Abs. 3 StGB) Indikation legal ist. Die verfassungsrechtliche Lösung kann denklogisch nur sein, dass entweder die Menschenwürde abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt.
3. Die ablehnende Haltung von Teilen der CDU/CSU-Fraktion wegen meiner Position zum Schwangerschaftsabbruch steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag. Es ist paradox, jemanden wegen einer Position abzulehnen, die man selbst vertritt. Da der Koalitionsvertrag von Kostenübernahme „durch die gesetzliche Krankenversicherung“ spricht, bezieht sich die vereinbarte Erweiterung der Kostenübernahme nicht auf eine Verbesserung der finanziellen Unterstützung durch die Länder für sozial bedürftige Frauen. Eine Erweiterung der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung setzt aber voraus, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase der Schwangerschaft rechtmäßig, d.h. legal ist. Der Koalitionsvertrag geht also selbst von einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten Wochen der Schwangerschaft aus.
4. Medien, insbesondere Leitmedien, sind Eckpfeiler unserer demokratischen Ordnung. Zum professionellen Journalismus gehören sachlich fundierte, auch in zugespitzter Form geführte Kampagnen; Desinformation und Diffamierung hingegen nicht. Erstaunlich ist, dass im Politik-Teil (nicht: im Feuilleton) eines Qualitäts- und Leitmediums einzelne Journalisten (nicht: Journalistinnen) zunächst „Speerspitze“ eines ehrabschneidenden Journalismus waren. So wurde im Blatt das Narrativ einer „ultralinken“ „Aktivistin“ geprägt, obwohl die Verantwortlichen wissen mussten, dass hiermit ein wirklichkeitsfremdes Zerrbild gezeichnet wird. Der Kampagnencharakter manifestierte sich auch in Artikeln über meine Position zum Schwangerschaftsabbruch. Obwohl die Verantwortlichen – teilweise Juristen – wissen müssen, dass es in der Rechtswissenschaft nicht nur um Ergebnisse, sondern vor allem auch um die Argumentation und Begründung geht, haben sie – zumal teils unvollständig bzw. falsch – lediglich Ergebnisse dargelegt („Menschenwürde erst ab Geburt“), nicht hingegen die dafür genannte rechtsdogmatische Begründung und das rechtswissenschaftliche Dilemma. Dies kann nicht dem Anspruch eines Qualitätsmediums entsprechen, das gerade in Juristenkreisen Verbreitung und Wertschätzung genießt. Die veränderte Berichterstattung im Blatt in der letzten Zeit könnte Ausdruck einer entsprechenden Selbstreflektion sein. Die Medien tragen besondere Verantwortung für das Gelingen und die Erhaltung der Demokratie.
5. Dass die diskurserweiternden und demokratiestärkenden Möglichkeiten des Internets mitunter zur Verbreitung von Fakenews und Schmähungen missbraucht werden, ist nicht neu. Neu und bedrohlich ist jedoch, dass sich in sozialen Netzwerken organisierte und zum Teil KI-generierte Desinformations- und Diffamierungskampagnen Bahn brechen zur Herzkammer unserer Demokratie, dem Parlament. Von politisch verantwortlichen Funktionsträgern wie Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die für bürgerliche Werte wie Anstand, Respekt und Verantwortungsbewusstsein stehen, darf und muss man erwarten, dass Grundlage ihrer Entscheidung nicht ungeprüfte Behauptungen und Stimmungen, sondern Quellen- und Faktenanalysen sind. Die Politik muss gegenüber von bestimmten Seiten geführten Kampagnen „Resilienz“ zeigen.
6. Lässt sich die Politik auch künftig von Kampagnen treiben, droht eine nachhaltige Beschädigung des Verfahrens der Bundesverfassungsrichterwahl. Die fachliche Kompetenz als zentrales Entscheidungskriterium darf nicht von öffentlichen Diskussionen über vermeintliche politische Richtungen oder angebliche persönliche Eigenschaften überlagert werden, zumal wenn diese ohne Tatsachenbezug erfolgen. In Zukunft sollte das Verfahren der Richterwahl mit mehr Verantwortungsbewusstsein praktiziert werden.
7. Mein Verzicht auf die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts wird viele Menschen enttäuschen, die mir geschrieben und mich – bis zuletzt – zum Durchhalten aufgefordert haben, weil sich unsachliche und diffamierende Kampagnen nicht durchsetzen dürfen. Durchhalten macht aber nur Sinn, wenn es eine reelle Wahlchance gibt, die leider nicht mehr existiert.
8. Mein großer Dank gilt allen, die mich in den letzten Wochen nachdrücklich unterstützt haben. Die SPD-Bundestagsfraktion stand fest an meiner Seite. Das Gleiche gilt für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und für die Bundestagsfraktion Die Linke. Auch einzelne Vertreter der Unionsfraktion sind mir fair, sachlich und respektvoll gegenübergetreten und haben mir den Rücken gestärkt. Sehr gefreut hat mich die Solidarität von vielen Kolleginnen und Kollegen. Besonders berührt haben mich Tausende von Mails aus allen Teilen der Gesellschaft im In- und Ausland, die mir auf sehr persönliche Weise zugesprochen und beigestanden haben. Ihnen allen sei versichert, dass ich mich weiterhin für die Werte unseres wunderbaren Grundgesetzes einsetzen werde.
Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M. Potsdam, 7. August 2025
Dann machten aber Abtreibungsgegner:innen in rechten Medien Front gegen Brosius-Gersdorf, die eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen für verfassungsrechtlich möglich hält und damit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widersprach. Die Kampagne zeigte bei den Unions-Abgeordneten Wirkung. Am Morgen der geplanten Abstimmung im Bundestag signalisierten 50 bis 60 Abgeordnete, dass sie Brosius-Gersdorf nicht wählen werden. Die Wahl wurde daher abgesetzt, hätte aber jederzeit nachgeholt werden können.
Brosius-Gersdorf blieb zunächst im Rennen. In einem bisher einmaligen Vorgang erläuterte sie ihre Positionen sogar in der Talkshow von Markus Lanz und hinterließ dort einen souveränen und seriösen Eindruck. Der Kampagne, dass sie eine „ultralinke“ Aktivistin sei, hatte sie so den Wind aus den Segeln genommen.
Brosius-Gersdorf kritisiert Unionsfraktion
Dennoch zog sie nun, rund zwei Wochen später, ihre Bereitschaft anzutreten zurück. „Durchhalten macht nur Sinn, wenn es eine reelle Wahlchance gibt, die leider nicht mehr existiert“, heißt es in ihrer Erklärung. Aus der CDU/CSU-Fraktion sei ihr sehr deutlich signalisiert worden, dass ihre Wahl im Bundestag „ausgeschlossen sei“, da sie von Teilen der Fraktion kategorisch abgelehnt werde.
Neben der Aussichtslosigkeit der Kandidatur nannte Brosius-Gersdorf zwei weitere Gründe für ihren Rückzug. Zum einen wolle sie vermeiden, dass nun auch die Kandidatur der beiden anderen Kandidat:innen gefährdet wird, deren Wahl Anfang Juli ebenfalls abgesetzt worden war. Gemeint sind der von der Union vorgeschlagene Günter Spinner, Richter am Bundesarbeitsgericht, und die Münchener Rechtsprofessorin Ann-Katrin Kaufhold, von der SPD nominiert. Der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Hoffmann hatte jüngst vorgeschlagen, drei völlig neue Jurist:innen zu nominieren.
Außerdem will Brosius-Gersdorf Schaden von der Demokratie abwenden. Sie geht wohl davon aus, dass eine Regierungskrise, die sich an ihrer Person festmacht, zu einem Scheitern der Koalition und einer Neuwahl mit einer noch stärkeren AfD führen könnte. Die Professorin nutzte die Erklärung, um die Unionsfraktion zu kritisieren. Es sei der Union nicht gelungen, sich inhaltlich mit ihrer wissenschaftlichen Position auseinanderzusetzen.
Matthias Miersch, SPD-Fraktionschef
Brosius-Gersdorf verteidigte ihre These, dass es gute Gründe gebe, die Menschenwürde erst mit der Geburt beginnen zu lassen. Wenn eine Abtreibung aus medizinischen Gründen legal ist, so die Professorin, könne die Lösung „denklogisch nur sein, dass entweder die Menschenwürde abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt“. Brosius-Gersdorf kritisiert zudem die FAZ, im Politikteil hätten einige männliche Journalisten als „Speerspitze eines ehrabschneidenden Journalismus“ agiert und ein „wirklichkeitsfremdes Zerrbild“ entworfen.
SPD-Fraktionschef Matthias Miersch bedauert Rückzug Brosius-Gersdorfs
Mit keinem Wort erwähnte Brosius-Gersdorf die jüngst verschärften Vorwürfe des selbsternannten Plagiatsjägers Stefan Weber, der Anfang der Woche den Verdacht äußerte, der Ehemann Hubertus Gersdorf habe ihre Doktorarbeit als „Ghostwriter“ teilweise mitgeschrieben. Brosius-Gersdorf verlangte inzwischen von Weber die Abgabe einer Unterlassungserklärung. Da aber die Universität Hamburg eine Vorprüfung eingeleitet hatte, wäre ihre Kandidatur als Verfassungsrichterin weiterhin belastet gewesen.
SPD-Fraktionschef Matthias Miersch bedauerte den Rückzug Brosius-Gersdorfs und kritisierte seinen Koalitionspartner. Die CDU/CSU sei nicht einmal zu einem Gespräch mit Brosius-Gersdorf bereit gewesen. „Wir erwarten von unserem Koalitionspartner, dass Absprachen künftig Bestand haben. Ein solcher Vorgang darf sich nicht wiederholen“, so Miersch.
Für die Grünen erklärten Katharina Dröge und Britta Haßelmann: „Dass die CDU-Fraktion nicht die Haltung und Kraft besessen hat, dieser Kampagne zu widersprechen und sich schützend vor Frauke Brosius-Gersdorf zu stellen, ist menschlich enttäuschend und extrem schwach.“
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