Wahlkampfthema Ehe: Scheidung für alle

Huch, die SPD zeigt plötzlich Mut: Wie es Schulz gelingt, Merkel zu düpieren und dem Fortschritt der Gesellschaft zu dienen.

Angela Merkel trägt einen apfelgrünen Blazer, lächelt und packt ihre schwarze Handtasch

„Du hast mein Wahlkampfthema stibitzt!“ – „Was? Ich doch nicht“ Foto: dpa

BERLIN taz | Die Sozialdemokratie fährt am Dienstagvormittag in der Berliner Bundespressekonferenz ein maximal großes Geschütz auf. Oder besser: neun Geschütze. Vor der blauen Medienwand sitzt Martin Schulz, SPD-Chef und Kanzlerkandidat, neben ihm starrt Sigmar Gabriel, seit einiger Zeit Außenminister, grimmig in den Raum. Auch die anderen SPD-MinisterInnen des Kabinetts sind da, außerdem Fraktionschef Thomas Oppermann.

Ein solch prominentes Line-up sieht man selten. Eigentlich wollte Schulz ja nur die Regierungsarbeit der SPD loben, ein klassischer PR-Auftritt kurz nach dem Parteitag. Doch Angela Merkels überraschender Schwenk bei der Ehe für alle ändert alles. Die Kanzlerin hatte am Montagabend bei einem Auftritt bei der Frauenzeitschrift Brigitte angedeutet, die komplette Gleichstellung von Schwulen und Lesben zu einer „Gewissensentscheidung“ machen zu wollen. Ein Coup, der auch die letzten Unentschiedenen von der Modernität der Kanzlerin überzeugen sollte. Aber nicht alle waren zufrieden.

In der SPD-Spitze empfand man Merkels recht vorsichtig formulierte Wende als maximale Provokation. Bereitet Merkel die nächste Liberalisierungs­offensive ihrer Union vor und besetzt ein SPD-Thema? Die Sozialdemokraten sind seit Langem für die Öffnung der Ehe für Homosexuelle, blockiert hat immer Merkels Union. Noch beim Koalitionsausschuss im März, berichtet Schulz, habe Merkel eine Liberalisierung kategorisch abgelehnt – „Ein No-Go, vergessen Sie es.“

Und dann setzt sich die Kanzlerin im Wahlkampf in ein Talkformat, um das Gegenteil zu verkünden? Jetzt, nachdem SPD, Grüne und FDP das Thema auf die Wahlkampfagenda gesetzt haben? Schulz und die anderen Spitzengenossen geben sich große Mühe, sehr empört zu wirken. Sie setzen Merkel die Pistole auf die Brust – und nehmen sogar den Koalitionsbruch in Kauf. „Wenn es mit der Union umgesetzt wird, ist es schön“, sagt Schulz. „Wenn es ohne die Union umgesetzt wird, ist es auch gut.“ Die Fraktion solle nun, so Schulz, die prozessualen Voraussetzungen schaffen.

Was etwas gewunden klingt, bedeutet: Fraktionsmanager Oppermann hat seinen Unionskollegen die Revolte am Morgen intern angekündigt. Dem Bundestag liegt ein Gesetzesentwurf aus dem SPD-geführten Rheinland-Pfalz vor. Er sieht vor, den Paragraf 1353 des Bürgerlichen Gesetzbuchs so umzuschreiben, dass auch gleichgeschlechtliche Personen eine Ehe mit allen Rechten und Pflichten eingehen können. Wenn er am Mittwoch im Rechtsausschuss angenommen wird, kann die Befassung im Plenum schon am Donnerstag oder Freitag dieser Woche folgen. Die SPD kann diese parlamentarischen Schritte ohne die Union anschieben, weil sie auf die Stimmen von Grünen und Linken zählen kann. Rot-Rot-Grün verfügt schließlich über eine knappe Mehrheit der Sitze, auch wenn diese noch nie zur Anwendung gekommen ist.

Martin Schulz

„Wenn es mit der Union umgesetzt wird, ist es schön. Wenn es ohne die Union umgesetzt wird, ist es auch gut“

Und die SPD ist fest entschlossen, diesmal die Blockade der Union zu durchbrechen. Sigmar Gabriel, qua Amt zur Diplomatie verpflichtet, vibriert vor Ungeduld, während Schulz noch redet. Als er endlich selbst dran ist, hält er einen Brief hoch, den er am 24. November 2015 an Merkel und Seehofer schickte. Es sei an der Zeit, liest er, gesellschaftliche Realitäten anzuerkennen. Gabriel schaut hoch. „An den Koalitionsvertrag halten heißt nicht, sich am Nasenring durch die Arena führen zu lassen kurz vor der Bundestagswahl.“

Das ist eine offene Drohung der SPD. Aber die Versuchung, die scheinbar unangreifbare Kanzlerin endlich mal in die Zange zu nehmen, ist übermächtig. Schließlich wurde die Entscheidung im Rechtsausschuss auf Wunsch einzig der Union dutzendfach vertagt. Die SPD hielt aus Vertragstreue still. Merkel selbst hatte in der Vergangenheit auf ihr ungutes Bauchgefühl bei dem Thema hingewiesen. Mit dem Wort „Gewissensentscheidung“ hat sie nun selbst den Raum für die Revanche geöffnet. Dann nämlich wird im Bundestag der Fraktionszwang aufgehoben, die Abgeordneten sind frei. „Merkel hat einen Move gemacht“, sagt Kanzlerkandidat Schulz. „Wir nehmen sie jetzt beim Wort.“

Die Union hat der Vorstoß des Koalitionspartners an diesem Dienstag kalt erwischt. Bei einem Pressefrühstück spricht sich Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer noch gegen eine „überstürzte Entscheidung“ vor der Sommerpause aus. Stunden später, am Nachmittag, schäumt Fraktionschef Volker Kauder vor Wut. Er will sein Statement vor der Fraktionssitzung beginnen, hustet, nimmt einen Schluck Wasser. Die Union werde die Aufnahme des Gesetzes auf die Tagesordnung nicht mittragen, sagt er dann kurz angebunden. Die SPD müsse sich dann eben auf die Seite der rot-grünen Opposition stellen. Gibt die Union ihren Abgeordneten die Entscheidung frei? „Schaun mer mal.“ Kauder rauscht mit versteinerter Miene ab.

CSU entdeckt Respekt und Verständnis

Kurz darauf verschickt die CSU eine Erklärung. Sie überlasse ihren Abgeordneten, wie sie sich entschieden. Zwar gehöre die Öffnung der Ehe für Homosexuelle nicht zu ihren Grundsatzpositionen, heißt es darin. „Gleichwohl haben wir Respekt und Verständnis, wenn Bundestagsabgeordnete der CSU bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag ihrem Gewissen folgend eine abweichende Entscheidung treffen.“

Damit ist die Sache durch. Wenn selbst die CSU dem Druck des Zeitgeistes nachgibt, wird sich Merkels CDU nicht sträuben können. Tatsächlich: Merkel sagt in der Unions-Fraktionssitzung kurz darauf, dass es bei der Abstimmung um eine Gewissensentscheidung gehe. Auch für CDUler ist der Fraktionszwang aufgehoben.

Diese Entscheidung ist typisch für die Kanzlerin. Wenn sie nicht siegen kann, gibt sie nach. Mit einem sturen Nein hätte sie viel verlieren, aber nur wenig gewinnen können. Über 80 Prozent der Deutschen sind für die Reform. Die Mitte der Gesellschaft hat schon lange nichts mehr für unbegründete Diskriminierung übrig.

Und so ist der Wahlkampf endlich mal für etwas richtig gut: Die Ehe für alle wird sehr plötzlich sehr viel schneller kommen, als selbst kühnste Optimisten es jemals zu träumen gewagt hätten.

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