Weltalzheimertag: Wenn die Worte verschwinden

Demenz-WGs funktionieren nur mit genügend Personal. Denn einige Bewohner vergessen mitunter, dass man sich schon mal getroffen hat.

Demenzkranke haben vieles, was gestern passiert ist, nicht mehr auf dem Zettel, aber Sachen aus der Vergangenheit meistens schon. Bild: AndreasF. / photocase.com

BERLIN taz | Manche Dinge altern nicht, Gemälde zum Beispiel. Das Bild mit dem reetgedeckten Haus, vor dem die Bauernrosen blühen, hat Herr Friedland* vor vielen Jahren gemalt. Es hängt heute in der Wohngemeinschaft, in der seine Frau ihre letzten Lebensjahre verbringt, die Bauernrosen auf dem Bild leuchten immer noch knallrot. Frau Friedland sitzt davor am Esstisch und dirigiert „die Moldau“ von Smetana, die Musik quillt aus den Boxen. Klänge, die sie von früher kennt. Sonst ist alles anders geworden im Leben der hochbetagten Dame mit dem feinen Gesicht.

„Ist alles nicht so einfach“, sagt Frau Friedland und lächelt. So was sagt sie oft, denn Sätze, die immer ein bisschen passen, beruhigen, wenn man viele Worte nicht mehr kennt, weil sie verschwunden sind im Kopf wie ein Buch in einer Bibliothek, das irgendwer verstellt hat. Frau Friedland sitzt mit sechs anderen hochbetagten Damen um den Esstisch im riesigen Wohnzimmer in Berlin-Pankow. Die Mittagssonne flutet durch die großen Fenster. Eine Pflegerin tischt süß-saure Eier auf. Sorgfältig kneten die Damen die Kartoffeln mit den Gabeln in die Senfsoße.

„Demenz-WGs“ heißen solche sozialen Konstruktionen, aber das mit der „Wohngemeinschaft“ ist ja geschummelt. Unter „Wohngemeinschaft“ verstand die Generation derjenigen, die für Vater oder Mutter jetzt „Demenz-WGs“ suchen, eigentlich etwas anderes.

Eine WG, das waren keine Wohnungen, in denen große Schilder mit Namen und Pfeilen den Weg in einzelne Zimmer weisen wie in der WG in Pankow. Mit BewohnerInnen, die zwar jeder einen Telefonanschluss haben, aber nicht mehr wissen, wie ein Apparat funktioniert. Die nicht allein kochen können und kaum allein aufs Klo. Die Frauen hier haben mindestens Pflegestufe II. PflegerInnen müssen immer in der Nähe sein, sonst laufen die Dinge aus dem Ruder.

„Wir balancieren das jetzt mal zu Ihnen rüber“, sagt Karin von der Heydt, 75, und schiebt ihren Teller mit den Senfeiern zu ihrer Tischnachbarin, die im Rollstuhl sitzt. Von der Heydt, eine kräftige Frau mit lebhaften dunklen Augen und kurz geschnittenen Haaren, ist eine der Energischsten in der Wohngemeinschaft. Vor ihrer Tischnachbarin stehen jetzt zwei Trinkbecher und zwei Essteller. Von der Heydt kann nicht mehr so genau unterscheiden zwischen mein und dein und gibt immer gern etwas ab.

Die Mitbewohner siezen

„Mama, hör auf, deinen Becher Margot zu schenken“, sagt Andrea von der Heydt, 50, mit sanfter Stimme. Sie ist zu Besuch. Doch von der Heydt senior lässt sich nicht so leicht beirren, warum nicht die Teller hin und her schieben und so für etwas Kontakt sorgen unter den Frauen? Wobei die ehemalige Fremdsprachensekretärin durchaus auf Distanz achtet: Sie siezt die Mitbewohnerinnen und ist beim Mittagessen angezogen wie bei einem Restaurantbesuch: Gepflegte schwarze Lederschuhe, Jacke, eine halbgeöffnete Handtasche hängt ihr über der Schulter, so als könne sie jederzeit aufstehen, bezahlen und gehen.

In einer Pflege-WG sind die BewohnerInnen rein rechtlich normale Mieter mit Mietvertrag. Oft fungieren dabei gemeinnützige Vereine als Zwischenmieter. Die Bewohner beziehungsweise deren betreuende Angehörige beauftragen einen Pflegedienst mit der ambulanten Versorgung der Gruppe. In guten WGs gibt es regelmäßige Angehörigentreffen.

Eine Personalbesetzung von mindestens vier PflegehelferInnen, auf zwei Tagesschichten verteilt, und einer Person nachts zeichnen eine gute Demenz-WG aus. Hinzu kommen externe Begleitungsdienste und etwa Besuche von Musik- und Physiotherapeuten. Qualitätskriterien gibt es beim Verein Selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA) in Berlin (www.swa-berlin.de)

Neben den Leistungen aus der Pflegekasse sind an Eigenmitteln in Berlin etwa 2.100 bis 2.500 Euro pro Monat nötig. Ist kein privates Geld da, springt vielerorts das Sozialamt ein. Ab dem Jahre 2013 bekommen Bewohner in Pflege-WGs eine leicht verbesserte Anschubfinanzierung und jeweils 200 Euro mehr im Monat für zusätzliche Betreuungsdienste. (bd)

Das Wohnzimmer ist für die Frauen ein halböffentlicher Raum. Denn man lebt da zusammen mit fremden Damen, die eindeutig nicht zur Familie gehören, aber aus unerfindlichen Gründen jeden Tag mit am Esstisch sitzen. Wobei einige der Frauen mitunter vergessen, dass man sich gestern schon mal getroffen hat.

Die WG hier in Pankow ist schon die zweite Wohngemeinschaft von der Heydts senior. Davor lebte sie in einer WG in Mitte und fand dort sogar eine richtige Freundin, erzählt die Tochter. Die beiden alten Frauen saßen zusammen auf dem Sofa, tranken Bier, hörten Musik und erfanden Reime. Doch da gab es Knatsch: Oft war nur eine Pflegerin für die Gruppe da, das Personal wechselte häufig und sprach kaum Deutsch, die Wohnungstür war nachts manchmal abgeschlossen, ein Nachtdienst für mehrere Wohngemeinschaften im Haus zuständig: all das sind Zeichen für eine schlechte WG.

Hier in Pankow ist es anders. „Luxus“, sagt Annemarie Vogel, und sie meint damit nicht die plüschigen Sitzmöbel mit dem Blumenmuster, die eine der Bewohnerinnen von zu Hause mitgebracht hat, und auch nicht die großzügige Wohnküche, in der man zur einen Tür hinein- und vorne wieder herauskann, weil Rundgänge in der Wohnung so wichtig sind für Demente.

Luxus ist hier die Zeit

Für Pflegerin Vogel, 61 Jahre alt und mit freundlichen braunen Augen und vielen Sommersprossen gesegnet, ist „Luxus“ hier die Zeit, die sie für die acht Bewohnerinnen zur Verfügung hat. Während der beiden Tagschichten sind sie immer zu zweit. Das war anders an ihrem früheren Arbeitsplatz, dort hat sie zwar mehr verdient als die 8,75 Euro brutto in der Stunde wie hier in Pankow, aber sie war allein zuständig für neun BewohnerInnen. „Es war furchtbar“, erzählt sie, „ich war ständig wie auf Rollschuhen“.

Vogel, die in ihrem Leben schon Mutter, Ehemann und einen behinderten Sohn betreute und pflegte, hat nicht nur eine Ausbildung als Pflegehelferin, sondern auch eine Fortbildung in „Validation“ gemacht. Das ist eine Art Pädagogik für Demente und bedeutet, auf das Innenleben des verwirrten Menschen einzugehen.

Wenn von der Heydt senior herumirrt und ihre „Kinder“ sucht, weil die Tochter für eine Weile verreist ist und seltener zu Besuch kommt, dann besänftigt Vogel, dass die Kinder „sehr gut aufgehoben sind“ und bestimmt „wohlbehalten wiederkommen“, ganz so, als seien die Kleinen auf Klassenfahrt und von der Heydt senior die junge, aufgeregte Mutter. Die Damen hier leben in der Vergangenheit, und davon künden nicht nur die Heinz-Ehrhardt-Filme und die DVD-Box mit „Lassie-Folgen“ im Regal unter dem Flachbildschirm im Gemeinschaftsraum.

Musik ist das Wichtigste

Doch manchmal verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart. Von der Heydt senior singt mit, wenn „Que sera, sera / Whatever will be, will be“ vom CD-Spieler ertönt. Spanisch und Englisch in einer Liedzeile, so was weckt Erinnerungen bei einer früheren Fremdsprachensekretärin. Musik ist das Wichtigste, denn in der Demenz bleibt das musikalische Gedächtnis lange erhalten. Schon in den Vormittagsstunden waberte ein Medley aus klassischen und Popmelodien durch den Gemeinschaftsraum wie in der Lounge eines Kurhotels, von Beethovens Fünfter über „House of the Rising Sun“ bis zu Griegs „Morgenstimmung“.

Es gibt hier kein tägliches Riesenprogramm, das Besondere der WG liegt in der Anleitung für die alltäglichen Verrichtungen. Es entscheide über die Qualität einer Demenz-WG, sagt Vogel, ob eine Bewohnerin immer wieder geduldig dazu angehalten wird, sich das Gesicht selbst zu waschen und die Hosen eigenhändig anzuziehen. Oder ob die Pflegerin das selbst übernimmt, was viel schneller geht – und dazu führt, dass die verwirrte Dame diese Tätigkeiten im Handumdrehen verlernt. Eine Bewohnerin, die im Rollstuhl sitzt, habe ihr zu Beginn den Waschlappen fast ins Gesicht geschmissen, erzählt Annemarie Vogel. „Jetzt wäscht sie sich selber und läuft sogar kurze Wege an der Hand.“

Die BewohnerInnen helfen beim Wäschezusammenlegen, gemeinsam Kochen ist schon aufwendiger, oft kocht eine Pflegerin allein. Neulich halfen die Damen bei der Rouladenzubereitung. Frau Schuster* fing an, die geschnittenen Zwiebeln zu probieren, die Pflegerin musste Frau Obermann* darauf hinweisen, dass die Fleischlappen roh sind und man besser erst hineinbeißt, wenn sie gebraten sind.

Es muss nicht viel passieren

Nach dem Mittagessen kehrt Ruhe ein, einige Damen gehen auf ihre Einzelzimmer. Von der Heydt senior sitzt gern in ihrem Ohrensessel und beobachtet das Kommen und Gehen unten auf der Straße. Viel müsse gar nicht passieren in einer Wohngemeinschaft, damit sich die Leute wohlfühlen, sagt Andrea von der Heydt. Aber zwei Pflegerinnen oder Pfleger pro Schicht, das sei ein wichtiges Qualitätskriterium.

Von der Heydt junior, von Beruf Behindertenbetreuerin, ist Vorsitzende des Vereins Selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA). Der Pflegedienst Panke-Pflege, der die WG in Pankow betreut, ist SWA-Mitglied und hat sich den Qualitätskriterien verpflichtet: Vier Pflegekräfte für die beiden Schichten am Tag und eine Pflegekraft nachts. Das ist teuer. Der Aufenthalt in einer guten Demenz-WG ist meist kostspieliger als ein Heimaufenthalt.

Frau Friedland vermisst ihren Mann, den schon lange verstorbenen Kunstmaler. „Hat er sich heute schon gemeldet?“ Das fragt sie oft. Vogel antwortet dann: „Heute nicht. Aber morgen, da schau’n wir mal“. Ein bisschen Zukunft muss es schließlich auch noch geben.

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