Weniger Kurse wegen Corona: „Land der Nichtschwimmer“

Als die Bäder in der Coronakrise schließen mussten, entfielen auch die Schwimmkurse. Die DLRG warnt vor einem Nichtschwimmer-Jahrgang.

Kinder bei ersten Schwimmversuchen im Becken eines Schwimmbads in Berlin

Begehrte Plätze: Während der Ferien fanden in Berlin vereinzelt wieder Schwimmkurse statt Foto: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

BERLIN taz | Sommer, Sonne, Badesee − dieser sommerferienhafte Dreiklang gilt für viele Kinder und Jugendliche auch in Pandemiezeiten. Mehr noch: Weil zahlreiche Familien auf eine größere Urlaubsreise ins Ausland verzichten, werden heimische Meere, Seen und Flüsse sogar öfter besucht. Zumal Hallenbäder häufig noch geschlossen und Freibäder nur für eine beschränkte Besucherzahl geöffnet sind. Damit verlagert sich der Badespaß dorthin, wo eher keine Rettungsschwimmer in der Nähe sind.

Das wird dann zum Problem, wenn die Badenden nicht richtig schwimmen können oder gänzliche Nichtschwimmer sind. Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) schätzt, dass ungefähr die Hälfte der Menschen hierzulande gar nicht oder nur schlecht schwimmen kann. Tendenz steigend, weshalb DLRG-Präsident Achim Haag bereits vor einem „Land der Nichtschwimmer“ warnt. Denn auch der Nachwuchs ist immer häufiger nicht sicher beim Schwimmen. Und die Corona-Pandemie könnte diese bereits bestehende Krise weiter verschärfen.

Der vor sich hin plätschernde Bach kann für Nichtschimmer rasch zur tödlichen Gefahr werden. Auch der Sprung in Nord- und Ostsee kann für ungeübte Schwimmer gefährlich sein. „Die Unterströmung im Meer ist teilweise so stark, dass es einen Menschen wie mit einem Staubsauger aufs offene Meer zieht“, sagt Achim Wiese von der DLRG.

Eine Forsa-Umfrage kam 2017 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland unter den Zehnjährigen etwa 60 Prozent keine sicheren Schwimmer sind, also nicht das Bronze-Abzeichen haben, den Freischwimmer. Die Gründe dafür sind vielfältig; Schwimmunterricht, der an vielen Schulen längst vom Stundenplan gestrichen wurde zum Beispiel, oder Nachwuchsprobleme für die meist ehrenamtlichen Trainer.

75.000 Kinder ohne Schwimmunterricht

Dieses Jahr ist noch ein weiterer Grund dazu gekommen: Die Corona-Pandemie könnte die bereits bestehende Krise weiter verschärfen. Denn als das Virus Mitte März den Schwimmbädern regelrecht den Stöpsel zog, fanden auch die Schwimmkurse plötzlich nicht mehr statt. Kinder, die in einem Sportverein oder an einer privaten Schwimmschule das Kraulen lernen wollten, mussten ihre Badeklamotten im Schrank lassen.

Mit fatalen Folgen: „Wir gehen davon aus, dass ein gesamter Jahrgang, also 75.000 Kinder, nicht schwimmen lernt“, warnte etwa Oliver Liersch vom DLRG Niedersachsen kürzlich in der Nordwest-Zeitung. Bundesweit liegen keine Zahlen vor, dennoch dürften hochgerechnet Hunderttausende betroffen sein.

Die Zahlen Anfang August erst zog die DLRG eine positive Zwischenbilanz für 2020: Bis zum 21. Juli zählte der Verein hierzulande mindestens 192 Badetote − deutlich weniger als während dieses Zeitraumes im Vorjahr (255).

Die Ursachen Als Grund gilt das wechselhafte Wetter: „Der Frühling und die ersten Sommermonate in diesem Jahr waren bislang doch eher verhalten und das spiegelt sich in den erfassten Zahlen wider“, sagte DLRG-Sprecher Achim Wiese.

Die Hitzewelle Die gegenwärtigen Temperaturen von bis zu 38 Grad dürften diesen Trend allerdings umkehren. Wo es mehr Menschen ans Wasser zieht, steigt auch die Zahl Badeunfälle. Auch pandemiebedingt befürchtet die DLRG stärker frequentierte Binnengewässer − und somit mehr Ertrinkungsfälle. Allein am vergangenen Wochenende überlebten mindestens zwölf Menschen das Baden in Meer, See und Kanal nicht − darunter ein 17-Jähriger in Hessen, der nicht schwimmen konnte. dgo

Was das im Kleinen bedeutet, davon kann Reinhard Wolters erzählen. Der 73-Jährige ist seit Jahrzehnten ehrenamtlicher Schwimmtrainer, bringt beim TSV Barsinghausen, einer Kleinstadt unweit von Hannover, Kindern das Schwimmen bei. Doch seit März ist das örtliche Lehrschwimmbecken verwaist.

„Zwanzig Kinder sitzen jetzt auf dem Trockenen“, sagt Wolters. Die Vier- bis Sechsjährigen warten ungeduldig darauf, dass es bald wieder ins Becken geht. Und die Eltern? „Die sind sehr verständnisvoll“, sagt Wolters. „Aber sie erwarten natürlich auch, dass wir uns überlegen, wie es wieder losgehen könnte.“

Hinzu kommt, dass der Betrieb des Lehrschwimmbeckens, in dem Wolters sonst zweimal die Woche am Beckenrand steht, schon in Nicht-Corona-Zeiten keineswegs ein Selbstläufer ist. Der Trägerverein, der das Becken betreibt, ist auf Mitgliedsbeiträge, Nutzungsgebühren und Spenden angewiesen. Bleibt das Becken weitere Monate ungenutzt, könnte die Finanzierung auf Dauer schwierig werden − und die vorübergehende Schließung letztlich eine dauerhafte werden. Ein Problem, vor dem sie nicht nur in Barsinghausen stehen.

Dass auch vor Corona immer weniger Kinder schwimmen lernten, liegt vor allem am allmählichen Sterben der Schwimmbäder. Die DLRG schätzt, dass seit Anfang der 2000er-Jahre bundesweit 80 Schwimmbäder geschlossen wurden − pro Jahr. Gab es im Jahr 2000 noch um die 7.800 Bäder, waren es 2018 nur noch 6.400. Wo Kommunen sparen müssen, werden Bäder geschlossen. Ihre Unterhaltung ist im Vergleich zu anderen Einrichtungen teuer.

Seit Jahren versucht die DLRG, gegen das Bädersterben anzugehen. Bereits 2018 hat der Verein deshalb eine Petition gestartet: “Rettet die Bäder!“, lautet der Titel. Darin fordern sie eine nachhaltige Finanzierung öffentlicher Bäder. Eine Gesellschaft aus Bund, Länder und Kommunen solle sich den Sanierungsstau von geschätzt 14 Milliarden Euro annehmen. „Alle müssen wieder an einem Strang ziehen“, heißt es darin.

Knapp 120.000 Menschen haben die Petition unterzeichnet. Öffentlichkeitswirksam per Rettungsboot hatte DLRG-Präsident Haag die Petition im vergangenen Jahr dem zuständigen Ausschuss im Bundestag überreicht. Inzwischen gab es eine öffentliche Anhörung, seit Kurzem liegt die Bittschrift der Bundesregierung vor.

Arme trifft es schwerer

„Mit dem höchsten Votum wird die Bundesregierung nun gebeten, sich der Petition anzunehmen“, sagte der Vorsitzende des Petitionsausschusses, Marian Wendt (CDU), Anfang Juli bei der Übergabe an die Groko. Und schob hinterher: „Jedes Kind in Deutschland sollte frühzeitig Möglichkeiten haben, das sichere Schwimmen zu lernen.“

Dass darin in Corona-Zeiten mehr Wunsch denn Wirklichkeit steckt, deckt sich mit den Erfahrungen von Sarah Riese. Die Frau aus Berlin-Neukölln ist zurzeit auf der Suche nach einem Schwimmkurs für ihre 4-jährige Tochter Noa. Erst hat sie es bei den städtischen Bädern versucht, aber „da war alles ausgebucht“, wie Riese sagt. Dann hat sie sich auf den Seiten der privaten Schwimmschulen umgeschaut. Hier waren zwar noch viele Plätze frei, „aber mit sehr hohen Preisen“, sagt die Mutter. Bei vielen Familien reicht das Geld dafür nicht.

Weniger Plätze, größere Nachfrage − diese Rechnung kann nicht aufgehen. Selbst wenn die Kurse nun peu à peu wieder anlaufen − die monatelange Pause ist nicht nachzuholen. Viele Kinder dürften ohne Seepferdchen oder Freischwimmer bleiben. Schon in normalen Zeiten sind die Wartelisten lang. „Manchmal müssen Eltern Monate auf einen Platz warten“, sagt auch Reinhard Wolters.

Zwischenzeitlich, sagt Riese, habe sie deshalb überlegt, ihrer Tochter im Freibad selbst das Schwimmen beizubringen, die Idee aber schnell verworfen. „Ich bin dafür die Falsche“, meint sie. Ähnlich wie ihre Tochter sei sie eher vorsichtig, deshalb will sie Noa nun doch notgedrungen an einer privaten Schwimmschule anmelden. „Wir haben zum Glück das Geld.“ Auch die geringere Kursgröße spiele für sie eine Rolle: „Das sind dann vier statt zwölf Kinder“, sagt Riese − inmitten einer Pandemie nicht unwichtig.

Auch beim TSV Barsinghausen soll es in ein paar Wochen, wenn die Sommerferien vorbei sind, wieder losgehen. Dank Hygienekonzept könnten die Kurse von Reinhard Wolters dann wieder anlaufen. Allerdings mit weniger Teilnehmern und teils gesperrten Duschen − und ohne den Trainer selbst. Denn Wolters zählt zur Risikogruppe. „Mir ist die Ansteckungsgefahr einfach zu groß. Ich will mich und die Kinder schützen“, sagt er. Erst wenn es einen Impfstoff gibt, will er wieder einsteigen.

Einen Ersatz für ihn zu finden, das dürfte für den Verein nicht einfach werden. Zumal sie nicht nur für Wolters einen Nachfolger suchen, sondern sogar einen weiteren Trainer einstellen müssten. Nur so wäre das Hygienekonzept in der Praxis umsetzbar.

Ein fast aussichtsloses Unterfangen. Ehrenamtlich, für ein kleines Taschengeld, mehrmals die Woche in der Halle zu stehen − viele haben darauf keine Lust. „Bis jetzt hält sich der Andrang gelinge gesagt in Grenzen“, sagt Wolters und muss schmunzeln. Ein neuer Trainer fällt nicht mal so eben vom Drei-Meter-Brett. Zwei schon gar nicht.

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