Wenn Kinder zu Nazis werden: „Viele berichten, dass sie ihr Kind nicht wiedererkennen“
Sozialarbeiterin Eva Prausner leitet seit 2008 ein Projekt in Berlin, das Eltern von rechtsextrem orientierten Kindern berät. Welche Rolle spielt familiäre Stabilität?

taz: Frau Prausner, was geht in den Eltern vor, die sich an Sie wenden?
Eva Prausner: Die Eltern sind zu Beginn sehr belastet und haben sich in Auseinandersetzungen mit ihrem jugendlichen Kind stark aufgerieben. Sie haben oft alles Mögliche versucht, um mit ihrem Kind immer wieder in Kontakt zu kommen, aber erleben, dass die Versuche, das Kind zurückzuholen, blockiert werden. Hinzukommt, dass Jugendliche ab einem Punkt oft gar nicht mehr einsehen, warum sie diese Szene verlassen sollten. Sie haben nicht den Veränderungs- oder Leidensdruck wie die Eltern, weil sie sich eben genau dort zugehörig und richtig fühlen. Viele Eltern berichten, dass sie ihr Kind nicht wiedererkennen, dass es ihnen fremd geworden ist.
taz: Wer sind die Eltern, die bei Ihnen Rat suchen? Welches Weltbild vertreten sie?
Eva Prausner: Es ist schon sehr häufig so, dass sich eine Wertedifferenz zwischen Eltern und Kind offenbart. Viele Eltern sagen: So habe ich mein Kind nicht erzogen. Sie verstehen sich als demokratisch oder liberal und leiden besonders unter dieser Entwicklung. Die meisten Eltern ordnen sich einer demokratisch orientierten Mitte zu, die sich gegen extrem rechte Einstellungen abgrenzt. Begriffe wie „antifaschistisch“ oder „links“ fallen eher selten. Sie leiden besonders unter dieser Entwicklung, weil sich diese fundamentale Wertedifferenz in der Familie besonders deutlich zeigt. Dann gibt es noch Eltern mit ambivalenten Haltungen. Sie lehnen diese Ideologie zwar ab, vertreten aber selbst alltagsrassistische Meinungen und damit auch Positionen ihres Kindes. Sie befürchten, dass es kriminell und gewalttätig wird oder seine berufliche Zukunft aufs Spiel setzt. Manche sorgen sich auch um den guten Ruf der Familie, der durch die Radikalisierung gefährdet sein könnte.
Eva Prausner ist Diplomsozialarbeiterin in Berlin.
Rita Wenzel (Name geändert) ist Mutter eines Kindes, das sich in den frühen 2000er Jahren der rechtsextremen Szene im Berliner Raum anschloss
taz: Gibt es einen „klassischen“ Zeitpunkt oder Auslöser, der Eltern dazu bringt, sich an Sie zu wenden?
Eva Prausner (dreht sich zu Rita Wenzel*): Rita, wie war das damals bei dir?
Rita Wenzel: Ich kann mich nicht an einen Punkt erinnern, an dem ich gesagt hätte: Jetzt brauche ich Beratung. Es war eher ein schleichender Prozess. Mein damals 15-jähriger Sohn kam auf einmal mit Ansichten nach Hause, mit denen ich nicht klargekommen bin. Rechte Stammtischparolen, wie „die Ausländer nehmen uns die Mädchen oder Arbeitsplätze weg“ oder „Berlin ist die größte türkische Stadt“. Auch sagte er, dass seine Kameradschaft jetzt mehr Familie für ihn sei als ich. Ich habe immer und immer wieder mit ihm diskutiert, seine Äußerungen waren leicht zu widerlegen. Bei meinem Sohn hing diese Entwicklung maßgeblich mit Gruppendynamiken an der Schule zusammen. Eine Lehrerin, die ich auf das Problem angesprochen habe, hat das Ganze runtergespielt. Sie habe ja auch Probleme mit den Russen im Haus. Dass Jungs in Kampfmontur über den Schulhof gelaufen sind, wurde einfach ignoriert. Das war echt krass. Von der Schule habe ich mich ziemlich alleingelassen gefühlt. Zwischen meinem Sohn und mir hat es jedenfalls mächtig gekracht. Es gab viele Alltagskonflikte, auch weil es immer um Politisches ging. Irgendwann verhärtet sich die Beziehung.
Eva Prausner: Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass es überwiegend Mütter sind, die sich zuständig fühlen und aktiv Hilfe suchen. Auch weil einige es unerträglich finden, von ihrem Sohn sexistisch beleidigt zu werden. Eltern, die sofort bei ersten Anzeichen reagieren, sind eher die Minderheit. Häufig kommt es erst nach einer Eskalation in der Familie zur Kontaktaufnahme, wenn etwa kaum noch ein vernünftiges Gespräch mit dem Kind möglich ist. Manchmal finden Eltern plötzlich Comics im Rucksack ihres Kindes, auf denen Gewalt gegen Personen abgebildet ist, die eindeutig rassistischen Feindbildern entsprechen. Das kann ein großer Schock und ein Auslöser für Beratung sein. Andere holen sich Hilfe nach einer Hausdurchsuchung oder einem Gewaltvorfall. In allen Auseinandersetzungen stellt sich die Frage: Was muss ich meinem Kind verbieten und was passiert, wenn ich es dann von mir wegtreibe? Das ist ein schwieriges Dilemma. Hinzu kommt, dass Peergroups im Jugendalter eine enorme Bedeutung erhalten, was den Einfluss der Eltern auf ihr Kind weiter schmälert.
Das Projekt „Eltern stärken – Beratung, Vernetzung, Fortbildung zum Thema Familie und Rechtsextremismus“ gibt es seit 2008 und wird vom Land gefördert. Träger des Projekts ist der Verein pad (präventive, altersübergreifende Dienste im sozialen Bereich).
Weitere Anlaufstellen Für Angehörige rechtsextrem orientierter Jugendlicher gibt es weitere Hilfen. Zum Beispiel die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) sowie das Projekt Crossroads des Violence Prevention Network. (Nina Schieben)
taz: Welche Rolle spielen Scham- oder Schuldgefühle bei betroffenen Eltern?
Rita Wenzel: Schuldgefühle hatte ich nicht unbedingt. Vielleicht müsste ich Schuldgefühle haben, wenn ich nichts versucht hätte. Geschämt habe ich mich aber schon. Ich habe nicht mit jedem darüber gesprochen. Aber ich hatte genug Menschen in meinem Umfeld, mit denen ich reden konnte. Das war für mich sehr wichtig. Auch der Austausch mit anderen betroffenen Eltern, die sich ebenfalls Sorgen um ihr Kind machten, war wichtig.
Eva Prausner: Es gibt immer Situationen, in denen Eltern das Gefühl hatten, nicht genug da oder Ansprechpersonen für ihr Kind gewesen zu sein. Im Rückblick wird oft deutlich, dass das Kind etwas vermisst oder sich nicht gut gefühlt hat. Es ist wichtig, sich das anzuschauen, aber auch, sich selbst verzeihen zu können. Wichtig ist auch, dass Eltern diesen Konflikt nicht nur zu ihrem eigenen Problem machen sollten. Das unterschätzt die Normalisierung extrem rechter Positionen in der Mitte der Gesellschaft, die sich in diesen vermeintlich privaten Auseinandersetzungen widerspiegelt.
taz: Im Song „Schrei nach Liebe“ der Band Die Ärzte, der sich gegen die Neonazis der 1990er Jahre richtete, heißt es: „Deine Gewalt ist nur in stummer Schrei nach Liebe. […] Deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.“ Welche Rolle spielen Faktoren wie Zeit, familiäre Stabilität und emotionale Nähe bei der Radikalisierung von Jugendlichen?
Rita Wenzel: Ich war damals alleinerziehend und habe viel gearbeitet. Meinem Sohn könnten da tatsächlich Strukturen gefehlt haben, die er dafür in rechten Gruppen gefunden hat. Die konnte ich ihm zu dem Zeitpunkt zumindest so nicht bieten.
Eva Prausner: Genau. Ich habe ja vor allem die Mittelschicht-Eltern am Apparat, die ökonomisch gut aufgestellt sind, mit Kindern, die materiell und bis dato ideell integriert sind. Trotzdem ist es wichtig, nach emotionalen Einstiegsgründen zu fragen. Welche Rolle spielen unerfüllte Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung oder auch Erfahrungen wie Einsamkeit, Ohnmacht, Mobbing oder Gewalt? Viele Eltern handeln auch schon entsprechend, bevor sie bei mir anrufen. Sie setzen einen Kontrapunkt, gehen in die Auseinandersetzung. Selbst wenn sie das Gefühl haben, damit keine Sekunde weiterzukommen. Jugendliche tragen eine Verantwortung für ihr Verhalten und könnten sich auch anders entscheiden. Menschenverachtung und Gewalt ist jedenfalls durch nichts zu rechtfertigen.
taz: Was hält die Beziehung zwischen Eltern und rechtem Kind trotz intensiver Konflikte zusammen?
Eva Prausner: Wenn ein echtes Beziehungsinteresse da ist, trotz aller Kontroversen und Eskalationen. So fragen sich manche Jugendliche: Will ich meine Eltern oder Geschwister wirklich verlieren, nur um bei der Kameradschaft zu bleiben?
Rita Wenzel: Mein Sohn ist mit der Zeit in viele Widersprüche geraten, die sein Weltbild durcheinandergebracht haben. Das kam auch durch unsere Diskussionen zu Hause. Heute ist er zum Glück völlig aus der Szene raus und geht nun gegen die AfD auf die Straße. Die Ablösung begann bei ihm nach der Schulzeit, als er eine Ausbildung anfing und sich sein soziales Umfeld veränderte.
taz: Hat die Nachfrage nach Beratung seitens betroffener Eltern in den letzten Jahren zugenommen?
Eva Prausner: Es ist aktuell nicht so häufig, dass Eltern extrem rechter Jugendliche freiwillig in die Beratung kommen. Meine Arbeit setzt früher an, mit Fachkräften, die mit Eltern, Kindern und Jugendlichen präventiv arbeiten und dadurch mehr Handlungsmöglichkeiten haben. So erreichen wir die Eltern, die sich nicht freiwillig an uns wenden.
taz: Oft ist die Rede davon, dass sich die Baseballschlägerjahre der 1990er Jahre heute wiederholen. Liegt das auch daran, dass Neonazis von damals ihre Ideologie an ihre Kinder weitergeben haben?
Eva Prausner: Sicherlich gibt es in dieser Hinsicht Kontinuitäten. Ich glaube auch nicht, dass alle Jugendlichen von damals mit ihren Baseballschlägern ihre Gesinnung abgelegt haben, sondern andere politische Ausdrucksformen gefunden haben – eben auch in der Erziehung ihrer Kinder.
taz: Ein anderer Bestandteil Ihrer Arbeit ist die Schulung von Kita- und Bildungspersonal im Umgang mit rechtsextremen Eltern. Warum setzen Sie bereits in Kitas an? Können sich Fragmente rechter Weltbilder bereits im Kleinkindalter äußern?
Eva Prausner: Ja. Kinder wachsen mit Vorurteilen und auch bereits mit einem „Hierarchiewissen“ auf. Es passiert, dass Kinder Gleichaltrige diskriminieren oder aufgrund äußerer Merkmale ausgrenzen und sich ihnen überlegen fühlen. Fachkräfte sind verpflichtet, zu intervenieren und Kinder vor Diskriminierung zu schützen. Sie suchen im besten Fall das Gespräch mit den Eltern, um herausfinden, wo die Ursache für das Verhalten des Kindes ist.
taz: Gibt es etwas, das Ihnen Zuversicht macht?
Eva Prausner: Ich sehe eine Bewegung von Sozialarbeitenden, Erzieher*innen, Lehrkräften und Eltern mit Veränderungsdruck, die sich klar gegen Ausgrenzung und Diskriminierung positionieren und hoffentlich auch demokratische Eltern wie Frau Wenzel mit dieser Herausforderung in ihren Familien nicht alleine lassen.
*Name geändert
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