Werner Herzog als Höhlenforscher: Rückkehr in die dritte Dimension

Toll: Werner Herzogs 3-D-Film "Die Höhle der vergessenen Träume" mischt anthropologische Spekulation mit Bildtheorie und Wissenschaftsdoku.

Werner Herzog erkundet die "Höhle der vergessenen Träume". Bild: Ascot Elite

Es muss, sagen die Forscher, vor ungefähr 22.000 Jahren gewesen sein, in der Würmeiszeit, als sich herabfallendes Felsgestein vor den einzigen Eingang eines gewaltigen Höhlensystems im Flusstal der Ardèche auftürmte und dieses auf einen Schlag vollkommen verschloss. War es ein Naturzufall? Ein Terroranschlag? Mussten Mammuts sterben? Für den modernen Menschen, zumal den an paläolithischer Höhlenkunst interessierten, war es vor allem: ein Glücksfall.

Die Felsbrocken fungierten über Jahrtausende hinweg als Medium der Mumifizierung. Sie schützten die Höhle vor neugierigen Blicken, bewahrten sie auf. Die Versiegelung hielt bis 1994, als der Höhlenkundler Jean-Marie Chauvet das mindestens 8.000 Quadratmeter große System entdeckte und zu erschließen begann.

Dessen unmittelbar evidente Einzigartigkeit besteht in exzellent erhaltenen Höhlenmalereien und -zeichnungen, die mit fast schon enzyklopädischem Eifer das eiszeitliche Tierreich repräsentieren. Und zwar bevorzugt im Cinemascope-Format, auf bis zu zwölf Meter breiten Bildwänden.

Von "Proto-Cinema" spricht denn auch Werner Herzog, der große Abenteuergeschichtenerzähler des Weltkinos, während seine 3-D-Kamera in gemessenen Schwenkbewegungen die mit Holzkohle, Lehm und Naturocker verzierten Höhlenwände abtastet. "Die Höhle der vergessenen Träume" heißt dieser Film, eine genuin herzogsche Mischung aus anthropologischer Spekulation, bildtheoretischem Traktat und schräger Wissenschaftlerdoku.

Herzog hat sich in der ungebrochen munteren Spätphase seiner Karriere eine erstaunlich flexible Produktionskonstellation geschaffen. Auf der einen Seite entstehen, mit arglosen Partnern wie dem Discovery Channel, sehr eigenwillige Dokumentarfilme ("Grizzly Man", 2005; "Encounters at the End of the World", 2007; zuletzt "Into the Abyss").

Andererseits scheint der bald 70-jährige Regisseur ausgesprochen gefragt als "Hired Hand" im B-Segment des Hollywood-Mainstreams. Dort ist, nach allem was man hört, dank "Pre-Deals" wie Auslandsverkäufen auch im Download-Zeitalter noch relativ risikofrei Geld zu verdienen.

Die Budgetdisziplin muss stimmen

Am stoischen Auftragsregisseur Herzog wird in diesem Produktionsmilieu geschätzt, dass er sein Auteur-Ego im Griff oder hinter sich hat, keine Budgets überzieht, Filme pünktlich finalisiert und einen lässigen Umgang mit Stars pflegt. Ob es sich um Christian Bale ("Rescue Dawn", 2006), Michael Shannon und Willem Dafoe ("My Son, My Son, What Have Ye Done", 2009) oder Nicolas Cage ("The Bad Lieutenant: Port of Call - New Orleans", 2009) handelt - den in wie gehabt bajuwarisch gefärbtem Englisch ergehenden Regieanweisungen kann sich offenbar niemand entziehen.

So verschroben die Autorenfilmlegende Herzog als Voice-over-Protagonist seiner eigenen Dokumentarfilme wirkt, so pflichtbewusst wickelt er exakt kalkulierte 30-Millionen-Dollar-Projekte für Produzenten wie Avi Lerner ab.

Dass er in diese Filme gelegentlich Irritationsinseln wie die zugegebenermaßen ziemlich irren Reptilien-Point-of View-Shots in "Bad Lieutenant" einschmuggelt, zeigt hier weniger einen unbezwingbaren Autorenwillen an, der noch das ärgste Industrieprodukt punktuell mit Kunstrestambitionen zu imprägnieren weiß, als dass bei diesen Filmen eigentlich alles egal (und insofern eben auch: möglich) ist, solange die Budgetdisziplin stimmt und mehr oder weniger abgehalfterte Stars nicht übellaunig werden.

"Die Höhle der vergessenen Träume" gehört in die andere Hälfte des Spätwerks und schließt in gewisser Weise direkt an Herzogs jüngste "Begegnungen am Ende der Welt" an, die ihn in der Antarktis mit angeblich depressiven Pinguinen und idiosynkratischen Forschern zusammenbrachte. Auch im Höhlenfilm sind die Protagonisten hochspezialisierte, sichtlich auf ihren Gegenstand fokussierte Wissenschaftler, die Herzog durch unkonventionelle Fragetechniken für sich einnimmt, aber auch immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt.

So erfährt man, dass ein Archäologe eine Zirkusvergangenheit hat (Herzog wie aus der Alexander-Kluge-Pistole geschossen: "As a lion tamer?"), dass es selbst beim verhalten durchgeführten Reenactment prähistorischen Bogenschießens ein Theorie-Praxis-Gap gibt, wie "Star-Spangled Banner" auf einer rekonstruierten Würmblockflöte klingt und dass die Fellmode von damals gar nicht so weit weg ist von den aktuellen Laufstegkollektionen in Mailand und Paris.

Der magische Ersatz des lebendigen Tiers

Über weite Strecken bewegt sich die Kamera in "Die Höhle der vergessenen Träume" jedoch ohne wissenschaftliche Nebendarsteller durch die Grotte, begleitet nur von Herzogs Trademark, dem unwiderstehlich modulierten Voice-over, das den Film im Tonfall der Beschwörung hartnäckig Richtung Bildanthropologie dirigiert. In immer neuen Anläufen inszeniert Herzog hier die Begegnung zweier Bildtechnologien, die durch einen "abyss of time" voneinander getrennt sind, aber dennoch in einem Kontinuum menschlicher Wahrnehmungsweisen stehen.

Die Höhlenmalereien und die 3-D-Bilder, die Erstere konservieren, gehören in diesem Narrativ zu einer geteilten Geschichte des objektivierten Sehens, zu dem Versuch, "das Wesen durch die Erscheinung zu retten", wie es André Bazin formuliert hat. In dessen filmtheoretischen Schriften heißt es weiter: "Und wahrscheinlich ist der von Pfeilen durchbohrte Bär an Lehmwänden der prähistorischen Höhle nur ein anderer Aspekt dieses Vorhabens, der magische Ersatz des lebendigen Wildes als Garant für die erfolgreiche Jagd."

Herzog wäre dann eine Art Magier zweiter Ordnung, der die Höhlenmalereien durch ihre filmische "Einbalsamierung" rettet, nachdem Chauvet und die wissenschaftliche Moderne ein 22.000 Jahre altes Felssiegel gebrochen hatten. Die Jagd geht eben immer weiter.

Die "magische" 3-D-Bildtechnik kommt aber nicht nur als Mumienmaschine zum Einsatz. Sie eignet sich - selbst noch in der hier aus Kostengründen verwendeten Low-tech-Variante - auf besondere Weise, um zu erfassen, wie sich die jungpaläolithischen Zeichner (waren sie Künstler? Dokumentaristen? Hobbymaler?) der vorgefundenen Plastizität ihrer "Lehmleinwand" bedienten, um die Illusion von Bewegung und Dynamik zu erzielen.

Die natürlichen Wölbungen der Höhlenwände übernehmen hier die Rolle des Projektors: sie verlebendigen etwas Fixiertes, sie stiften Bewegungssehen. Erst mit 3-D kommt der technologische Apparat Film so gesehen wieder dort an, wo die ersten Versuche in Sachen Phasenbild lange vor Eadweard Muybridges Chronofotografie bereits waren: in der dritten Dimension.

Mit den Augen von Albino-Krokodilen

Herzog wäre nicht Herzog, würde er es bei diesen bildtheoretischen Ironien belassen. Am Ende des Films, nach einem harten Schnitt, sieht sich der Zuschauer unvermittelt mit einem unweit der Chauvet-Höhle gelegenen Atomkraftwerk konfrontiert, das unbeeindruckt vor sich hin qualmt. Auch eine Form, vorgeschichtliche Erhabenheit abzumoderieren.

Mit dem radioaktiv kontaminierten Kühlwasser wird eine höchst seltsame Biosphäre unterhalten, in der sich Alligatoren fröhlich vermehren und zwischendurch ein Bad nehmen. Unter ihnen interessiert sich Herzog naturgemäß besonders für die Sonderlinge, für Reptilien mit Pigmentstörungen und orange leuchtenden Augen.

Was sehen diese schmalen, vertikal sich zusammenziehenden Pupillenschlitze, wenn sie in die 3-D-Kamera eines Altmeisters schauen? Was sehen wir, wenn wir filmisch vermittelt auf steinalte Kohlezeichnungen im heutigen Südfrankreich blicken, um darin materielle Spuren, Konzepte und Praktiken unserer vergletscherten Ahnen auszumachen? Blicke, die nicht erwidert werden können und dennoch Abgründe zu überbrücken suchen. Make no mistake: Auch Albino-Krokodile haben klein angefangen.

"Die Höhle der vergessenen Träume". Dokumentarfilm. Regie: Werner Herzog. Frankreich u. a. 2010, 90 Min.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.