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RollstuhlskatenWheelie mit dem Rolli

Levi Klußmann ist Rollstuhlskater, er stürzt sich mit seinem Fahrgerät in die Halfpipe. Durch den Sport wird auch sein Alltag einfacher.

Levi Klußmann, 20, skatet gern zu Punkrock-Klängen Foto: Pascal Lieleg

Scharbeutz taz | Durch die Öffnung seines Helms schaut er in den Abgrund. Zentimeter für Zentimeter tastet er sich vor, balanciert die Räder auf der Kante. Durchatmen, das Gewicht nach vorne verlagern. Dann stürzt er sich die Abfahrt der Rampe hinunter.

Lauter als das Aufschlagen der Räder auf dem Beton ist sein Jubelschrei. „Jappa!“, ruft Levi Klußmann. Den „Drop-in“ hat er nicht mit dem Skateboard gemacht, sondern mit seinem Rollstuhl.

Beim Rollstuhlskaten, auch Wheelchair-Motocross oder kurz WCMX, wird der Rollstuhl zum Sportgerät. Für den 20-Jährigen ist es mehr als eine Freizeitbeschäftigung: Es gibt ihm Selbstvertrauen, macht ihn unabhängiger. Mit dem Skaten überwindet er Barrieren – im Skatepark, im Alltag und weit darüber hinaus.

Klußmann lebt mit seiner Familie in Denkte bei Braunschweig. An einem Wochenende im Juli sind sie ins knapp 300 Kilometer entfernte Scharbeutz an der Ostsee gefahren. Wo man sonst neben gestreiften Strandkörben und Regenwetter nichts Aufregendes erwartet, halten an diesem Tag Feriengäste bei ihrem Spaziergang inne.

Nervenkitzel beim Skaten

Im Skatepark an der Strandpromenade dröhnt Punkrock aus den Musikboxen. Klußmann ist Teil der Community von Sit’n’Skate, einem gemeinnützigen Projekt für Menschen im Rollstuhl, die heute den Skatepark übernehmen.

Klußmann bei einem Skate-Workshop in Scharbeutz Foto: Pascal Lieleg

Seit seiner Geburt hat Klußmann eine Muskelhypotonie, einen Mangel an Muskelstärke und -spannung. Woher das bei ihm kommt, weiß man nicht. Als Kind konnte er nichts greifen, konnte nicht sitzen, ohne zur Seite umzukippen. Die Prognosen waren düster: Er würde nicht selbstständig im Rollstuhl fahren können, hieß es. Würde nicht sprechen lernen, die Schule nicht schaffen.

Nun tauscht er die Basecap gegen einen Helm, zieht sich Schoner über Knie und Ellenbogen und beugt sich nach vorne, um die Klettgurte an den Füßen festzuziehen. Am Skaten mag er vor allem den Nervenkitzel: „Da kommt so ein Adrenalinkick hoch“, sagt er. Als einer der Ersten steuert er an diesem Tag mit seinem Rollstuhl über die Wölbungen des Skatepools, die sich wie Sandhügel aus dem Beton erheben.

Klußmann trainiert seit rund eineinhalb Jahren regelmäßig. Das hilft ihm auch im Alltag: Bei Bordsteinen, Kanten, Steigungen. „Dafür brauche ich den Wheelie“, sagt er. Genau wie beim Skateboard oder BMX-Rad ist ein „Wheelie“ auch beim Rollstuhlskaten das Balancieren auf den Hinterrädern. „Wenn ich den Rollstuhl nicht anheben könnte“, sagt Klußmann, „dann ist der Bordstein wie eine Wand vor mir“.

Skate-Rollstuhl mit extra Dämpfung

Den 40 Kilometer weiten Schulweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln traut sich Klußmann seit dem Skate-Training alleine zu. Und wenn der Absatz nicht zu hoch ist, dann springt er auch mal ohne Rampe aus dem Bus. „Wenn man skatet, dann hat man im Alltag eigentlich keine Barrieren mehr“, sagt er.

Klußmann hat einen zusätzlichen Skate-Rollstuhl, der Metallrahmen glänzt marineblau. Da hab ich Dämpfung drin“, sagt er. Das schont seine Wirbelsäule, wenn er sich von oben in die Skaterampen hineinfallen lässt.

Knapp 50 Menschen haben sich in und um den Skatepark versammelt. Ein Mädchen mit Schildkrötenmotiv auf den Hinterrädern skatet heute zum ersten Mal. Ein kleiner Junge strahlt übers ganze Gesicht, als der Vater die Griffe seines Rollstuhls packt und mit ihm quer durch den Skatepark rennt. Auch wer sonst nicht im Rollstuhl sitzt, kann das Skaten heute ausprobieren.

„Achtung!“, ruft Klußmann, dann fährt er die abgerundete Seitenwand hoch, rollt rückwärts wieder runter und nutzt den Schwung, um sich mit dem Rollstuhl einmal um sich selbst zu drehen.

Auf der Rückenlehne „FCK AFD“

„Let’s go, Levi!“, ruft David Lebuser. Der ist ein Skater, wie er im Buche steht: Vans mit Schachbrettmuster, Kapuzenpulli, grün gefärbte Haare. Die Lenkrollen vorne am Rollstuhl hat er durch Skateboardrollen ausgetauscht, die Rückenlehne klebt voller Sticker: „Sankt Pauli“, „FCK AFD“, „Destroying Stereotypes“.

Der 38-Jährige hat das Rollstuhlskaten in Deutschland groß gemacht. Inzwischen ist er zweifacher Deutscher Meister und hat gemeinsam mit seiner Frau Lisa Lebuser Sit’n’Skate gegründet. Daraus ist eine Community mit Menschen aus ganz Deutschland entstanden, die nicht nur Rollstuhlfahrende verschiedener Altersgruppen zusammenbringt, sondern auch mit unterschiedlich schweren Behinderungen. In sechs Städten organisiert Sit'n'Skate Rollstuhl-Skate-Treffen, bietet Workshops und Veranstaltungen an.

Lebuser selbst ist seit einem Unfall vor 18 Jahren querschnittsgelähmt. Der Rollstuhl war für ihn erst mal „harter Tobak“, sagt er. Skaten bedeutete später für ihn ein Austesten der Grenzen: steiler, höher, krasser. „Nicht mehr andere haben bestimmt, was möglich ist“, sagt er, „sondern ich hab das für mich selbst bestimmt.“

Heute jagt er seinen Rollstuhl über die Rampen. Balanciert ihn auf einem Rad, rutscht über Geländerstangen, fährt Treppen herunter. Sein größter Trick: der Handplant. Dabei lässt er sich auf der Rampe zur Seite fallen und stützt sich mit einer Hand ab. Der Rollstuhl schwebt für einen Moment über ihm in der Luft.

Bei Sit’n’Skate gehe es aber nicht darum, der Beste zu sein: „Jeder soll mitmachen können und spielerisch den Umgang mit dem Rollstuhl lernen“, sagt Lebuser. Es komme beim Rollstuhlskaten nicht auf „krasse Tricks“ an, sondern aufs Ausprobieren. Darum, „auch mal Sachen zu machen, die einem als Rollstuhlfahrer vielleicht nicht zugetraut werden“, sagt er.

„Nix passiert“

Ihn stört, dass das Leben mit Behinderung oft mit Leid assoziiert wird. „Natürlich war der Unfall blöd und auch traurig“, sagt er. „Aber das Leben danach war’s eigentlich nie.“

Für Levi Klußmann ist David Lebuser ein Vorbild. Manchmal schickt er ihm Videos von sich beim Skaten und fragt nach Tipps. Heute geht das vor Ort, Lebuser gibt einen Skate-Workshop: „Am besten ein bisschen schräg hochfahren, damit du nicht oben verhungerst“, sagt er und zeigt in Richtung Rampe. „Siehst du die Kante? Peil sie an! Nach vorne lehnen und richtig Gas geben. Los, los, los!“

Klußmann nimmt Schwung und steuert seinen Rollstuhl auf ein „Corner“ zu, eine Eckrampe. Er lehnt sich in die Kurve, dann geht es ganz schnell. Klußmann verliert die Kontrolle und stürzt.

Ein Ehepaar dreht sich erschrocken um. „Nix passiert!“, ruft Klußmann. Die Frau in geblümtem Kleid muss erst mal durchatmen. „Cool, dass man so was macht“, sagt ihr Mann, „Respekt!“

Schnell hat Klußmann sich auf den Bauch gedreht, mit den Händen abgestützt und die Hüfte nach oben gedrückt. Er sitzt wieder aufrecht im Rollstuhl, weiter geht’s. Neben dem Skaten spielt Levi Schlagzeug und Akkordeon, um seine Motorik zu trainieren. Er baut Kugelbahnen, filmt sich dabei, schneidet die Videos, lädt sie hoch. Ins Schwimmbad fährt er alleine. Inzwischen bringt er auch seinem nicht behinderten Vater das Rollstuhlskaten bei.

Lässig auf den Hinterrädern

Dass Klußmann für vieles länger braucht als andere, davon lässt er sich nicht aufhalten. Er war auf der Förderschule, hat dann seinen Hauptschulabschluss gemacht und kürzlich den erweiterten Realschulabschluss geschafft. „Du kriegst den Wheelie schon echt gut hin“, sagt ein Mädchen mit goldenem Glitzer im Gesicht und bunten Speichen am Rollstuhl, das neben ihm angehalten hat. Klußmann balanciert lässig auf den Hinterrädern, die vorderen zeigen in die Luft. „Viel Training“, sagt er.

Wie jeder Skater stürzt er eben manchmal

Den Skatepark verlässt er erst, als es anfängt zu regnen. „Der letzte Sturz hat bisschen weh getan“, gibt er zu und reibt sich mit einer Hand über die Finger. Wie jeder Skater stürzt er eben manchmal. Er will dranbleiben, „gucken, was geht“. Irgendwann vielleicht auch an Skate-Wettbewerben teilnehmen. „Aber da muss ich noch besser werden“, sagt er.

Im August beginnt seine Ausbildung zum Sozialassistenten im Kindergarten. Er will „Kinder motivieren“. Für später kann er sich vorstellen, Eltern mit Kindern im Rollstuhl zu beraten – und ihnen zeigen, was mit dem Rollstuhl alles möglich ist: „Damit die sehen, es geht auch weiter!“

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