Opferzahlen im Gaza-Krieg: Wie viele Tote gibt es in Gaza?
Wie viele Menschen im Gaza-Krieg gestorben sind, ist umstritten. Studien legen nahe: Selbst die palästinensischen Zahlen sind wohl viel zu niedrig.

Das Gesundheitsministerium im Gazastreifen steht seit der Machtübernahme der Hamas im Jahr 2006 politisch unter der Kontrolle der dortigen Regierung, wird jedoch bis heute finanziell und verwaltungstechnisch von der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah unterstützt. Seine führenden Mitarbeiter, zumeist Ärzte, die für den Großteil der medizinischen Einrichtungen im belagerten Küstenstreifen zuständig sind, mussten ihre Büroräume infolge der israelischen Angriffe verlassen und arbeiten nun überwiegend aus dem Al-Shifa-Krankenhaus im Zentrum von Gaza-Stadt.
In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht das Ministerium auch namentliche Listen der Toten. Die letzte solche Liste vom 31. Juli umfasste 60.199 Einträge und enthielt neben Geburtsdaten, Geschlecht und den von Israel vergebenen Ausweisnummern auch das genaue Alter am Todestag. Bei den ersten 97 getöteten Säuglingen wurde es in Tagen angegeben, bei den folgenden 877 in Monaten. Erst ab Eintrag 974 sind Namen von Opfern verzeichnet, die ihr erstes Lebensjahr erreicht haben. Insgesamt listen die neuesten Dokumente der Behörde 18.430 Minderjährige, 9.735 Frauen zwischen 18 und 60 Jahre und 4.429 Menschen über 60 auf. Genauere Angaben dazu, wie die Opfer getötet wurden, macht die Behörde nicht.
Israels Regierung und ihre Verbündeten diskreditieren die Angaben der Gaza-Behörden als „Hamas-Angaben“, aber interne israelische Militärdokumente bewerten sie als verlässlich, ebenso die Vereinten Nationen. Eigene Zahlen zu palästinensischen Zivilopfern gibt es von israelischer Seite nicht. Das israelische Militär gab im Januar lediglich an, seit Kriegsbeginn 20.000 Kämpfer der Hamas und anderen bewaffneten Organisationen getötet zu haben. US-amerikanische Nachrichtendienste schätzten die Zahl zum selben Zeitpunkt deutlich niedriger, auf etwa 10.000 bis 15.000. Vor wenigen Tagen erklärte das israelische Militär, seit dem von ihm verursachten Bruch der Waffenruhe im März weitere 2.000 Kämpfer getötet zu haben. Seit Beginn der Bodenoffensive Ende Oktober 2023 wurden außerdem 454 israelische Soldaten in Gaza getötet – davon 46 seit März.
Nicht alle Toten können registriert werden
Eine öffentlich zugängliche Übersicht aller in Gaza registrierten Todesfälle, ob kriegsbedingt oder natürlich, liegt nicht vor. Die besagten Listen des Gesundheitsministeriums erfassen nur Todesfälle durch Gewalteinwirkung, nicht aber die wachsende Zahl von Toten durch Hunger oder vermeidbare Krankheiten, und nehmen auch nur diejenigen Toten auf, die Mitarbeiter des Gesundheitswesens offiziell registriert haben. Diese arbeiten unter immer katastrophaleren Bedingungen und ständigen Angriffen. Auch das Gesundheitsministerium in Ramallah, das mit seinen Mitarbeitern in Gaza im ständigen Kontakt steht, beteiligt sich am Verifizierungsprozess.
Viele Menschen können im Kriegsgebiet gar keine Gesundheitseinrichtung erreichen und ihre Toten damit nicht registrieren lassen. Seit 2024 besteht zwar die Möglichkeit, Tote unter Berufung auf zwei Zeugen online zu melden; diese Meldungen fließen aber keinesfalls automatisch in die Todesliste, und Internetzugang ist im Gazastreifen keine Selbstverständlichkeit. Auch deshalb weisen die Berichte des Gesundheitsministeriums wiederholt darauf hin, dass noch viele Leichen unter Trümmern oder in unzugänglichen Gebieten liegen. Ihre genaue Zahl bleibt ungewiss.
Einige Studien aus dem vergangenen Jahr haben versucht, diese Dunkelziffer zu erfassen. Im Januar veröffentlichte die renommierte Fachzeitschrift The Lancet eine Peer-Review-Studie von Forschern der London School of Hygiene and Tropical Medicine und der Yale University, die systematisch Nachrufe in sozialen Medien mit behördlichen Daten abglich. Ihr Ergebnis: Die vom Gesundheitsministerium gemeldeten Todeszahlen in den ersten neun Kriegsmonaten erfassen nur etwa 60 Prozent der tatsächlichen Zahl der Opfer durch Gewalteinwirkung.
Gestützt werden diese Ergebnisse durch eine weitere Studie, die Licht auf die stringente Arbeitsmethodik des Gesundheitsministeriums in Gaza wirft. Die unabhängige Londoner Konfliktforschungsorganisation Action on Armed Violence (AOAV) prüfte eine auffällige Veränderung in den amtlichen Opferlisten: In der Namensliste vom März fehlten 3.000 Namen, darunter 1.079 Kinder, die in früheren Listen aufgeführt waren.
Als diese Streichung bekannt wurde, stellten einige Medien sie als angeblichen Beweis für einen früheren Verfälschungsversuch der zivilen Opferzahlen durch die Hamas dar. AOAV arbeitete indessen mit mehreren Forschern aus Gaza zusammen und stellte fest: Die 3.000 Namen waren zumeist per Online-Meldung auf die Liste gelangt und wurden gestrichen, als sie den Verifizierungsrichtlinien der Behörde nicht genügten. Bei der Überprüfung der aus der Liste entfernten Kinder ließ sich dennoch der Tod von 60 Prozent mit hoher Sicherheit bestätigen, bei weiteren 21 Prozent galt er als wahrscheinlich. Nur in 3 Prozent der Fälle fanden sich Duplikate oder fehlerhafte Angaben, die einem tatsächlichen Todesfall eindeutig widersprachen.
Viele Menschen sterben aus anderen Gründen als Gewalt
Die neueste Studie, die am 19. Juni von einem internationalen Forscherteam der Universitäten Royal Holloway, Princeton, Stanford, dem Osloer Friedensforschungsinstitut und dem Palestinian Center for Policy and Survey Research veröffentlicht wurde, bestätigt die Erkenntnisse der vorherigen Untersuchungen mit einer anderen Methodik: Mehrere Teams befragten Anfang des Jahres repräsentativ ausgewählte 2.000 Haushalte im Gazastreifen zu Todesfällen. Auch hier zeigte sich eine Untererfassung durch das Gesundheitsministerium: Auf sechs verifizierte Kriegsopfer kamen vier nicht erfasste. In der Aufschlüsselung nach Alter und Geschlecht weisen die offiziell erfassten und nicht erfassten Todesfälle kaum Unterschiede auf: Ältere Menschen, Frauen und Kinder – Bevölkerungsgruppen, die in der Regel nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen – stellen weiterhin die Mehrheit der registrierten wie auch der nicht registrierten Todesopfer.
Die Studie erfasst erstmals auch die Zahl der Menschen, die nicht durch Waffengewalt starben. Unstrittig ist, dass die weitreichende Zerstörung der Krankenhäuser und der Mangel an Medikamenten, Nahrungsmitteln und sauberem Wasser im Gaza-Streifen zu einem deutlichen Anstieg der Todesfälle geführt haben. Gezählt hat sie bisher aber niemand.
Bemerkenswerterweise kommt die Studie zu einer relativ niedrigen Zahl von 8.540 Todesfälle im Rahmen der Übersterblichkeit bis Januar 2025. Dies erklärte der Forschungsleiter Michael Spagat gegenüber Ha’aretz damit, dass es dem UN-Hilfswerk UNRWA und anderen Hilfsorganisationen vor dem 7. Oktober 2023 und eine Zeit lang auch danach noch möglich war, die Menschen effektiv zu ernähren und zu versorgen. Dies sei heute nicht mehr der Fall. Die israelische Regierung blockiert seit Monaten weitgehend die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten in den Gazastreifen – sogar Babynahrung wird wiederholt konfisziert.
Seit einem halben Jahr, wie Spagat im gleichen Interview betont, beobachte man deutlich, wie die Bevölkerung Gazas „zunehmend ihre Fähigkeit verliert, sich vor überhöhter Sterblichkeit zu schützen“. Seit dem Erscheinen des Ha’aretz-Artikels Ende Juni haben die Meldungen über akute Hungersnot und tödliche Krankheiten im gesamten Gazastreifen weiter zugenommen.
Wahrscheinlich weit über 100.000 Tote
Was ergibt sich aus all dem für die Frage, wie viele Menschen insgesamt infolge des Krieges im Gazastreifen gestorben sind? Wendet man die ermittelten Werte zur Untererfassung direkter Kriegstoter auf die aktuellen Zahlen der Gesundheitsbehörde an, ergibt sich, dass in Gaza bereits über 100.000 Menschen unmittelbar durch Gewalt ums Leben gekommen sein dürften. Nimmt man zusätzlich die ermittelte Übersterblichkeit hinzu, steigt die Zahl auf rund 115.000 – die Auswirkungen der derzeitigen akuten Hungersnot und die damit mutmaßlich gestiegene Zahl der „indirekten“ Kriegsopfer ist da noch gar nicht mitgezählt.
Die Bezeichnung „indirekte Kriegstote“ ist in diesem Fall jedoch irreführend. Wie zahlreiche Aussagen hochrangiger Politiker in Israel belegen, wird die Aushungerungspolitik und die Zerstörung der gesamten Lebensgrundlagen offenbar mit dem Ziel betrieben, den Gazastreifen von Palästinenser*innen zu entvölkern.
In einem von zwei ehemaligen israelischen Generälen verfassten Gutachten des regierungsnahen Thinktanks Jerusalem Institute for Strategy and Security, das die „freiwillige Ausreise“ der palästinensischen Bevölkerung propagiert, wird außerdem die Zahl der Palästinenser*innen, die den Gazastreifen seit Oktober 2023 bereits verlassen haben sollen, auf 200.000 geschätzt – oft sind es Verletzte oder Doppelstaatler und deren Angehörige. Zusammengerechnet würde das heißen, dass bis zu 15 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung von 2,3 Millionen Menschen bereits tot oder weg ist.
Die absichtliche Schaffung von Bedingungen, die eine Bevölkerung ganz oder teilweise zerstören, stellt nach dem humanitären Völkerrecht und der UN-Völkermordkonvention ein Verbrechen dar. Wie zuletzt die israelischen Menschenrechtsorganisationen B’Tselem und Physicians for Human Rights in ihren jeweiligen Berichten feststellten, zeigen die aktuellen Daten aus Gaza, dass die Welt bereits daran gescheitert ist, auch diesen Genozid zu verhindern.
Mitarbeit: Lisa Schneider
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