Wilfried Berghaus über Jazz in Ostfriesland: “Hören muss man immer wieder neu lernen“

Seit 25 Jahren organisiert Wilfried Berghaus Jazz-Konzerte in Ostfriesland. Wieso sich weltweit Musiker darum reißen, in Leer auftreten zu dürfen, erzählt er im Interview

Hat den Jazz nach Ostfriesland geholt: Wilfried Berghaus Foto: Thomas Schumacher

taz: Herr Berghaus, können Sie nach über 200 Konzerten dem Free Jazz noch etwas Neues abhören?

Wilfried Berghaus: Mehr denn je! Wir finden immer wieder neue MusikerInnen mit neuer Musik. Weil wir den Begriff Jazz nicht eingeengt definieren, finden wir sozusagen eine Weitwinkel-Musik, die uns immer wieder überrascht.

Wie sind Sie eigentlich auf den Jazz gekommen?

Oh, das weiß ich genau. Ich habe mit 25 Jahren auf einer Party in Leers Nachbarstadt Bunde nachts auf der Hollywood-Schaukel im niederländischen Radio Hilversum eine Musik gehört und gedacht: Wow, was zum Teufel ist das? Ein gewisser Charlie Parker spielte Saxofon, absolut überirdisch. Am nächsten Tag hab ich mir seine Platte besorgt. Damals gab es in Leer noch einen Plattenladen. Und in einer Leerer Buchhandlung, der Besitzer Theo Schuster war selbst Jazz-Fan, fand ich dann andere Platten. Das war ein Erweckungserlebnis.

64, leitet bei der Stadtverwaltung Leer die Abteilung für Kinder- und Jugendförderung. Das Kulturamt leiht ihn sich gewissermaßen aus, damit er die Konzertreihe „Jazz live im Speicher“ organisieren kann.

Diese Jazz-Reihe organisiert der Hobby-Triathlet in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule so erfolgreich, dass das Projekt 2013 von der Bundesregierung mit dem Deutschen Spielstättenpreis ausgezeichnet wurde.

Am 16. November 1992 eröffnete der Saxofonist John Tchicai die Konzertreihe. Und nach 25 Jahren „Jazz live im Speicher“ mit über 200 Auftritten haben die Konzerte Kultstatus. Die ZuschauerInnen reisen aus ganz Norddeutschland, den Niederlanden und dem Ruhrgebiet an. KünstlerInnen aus der ganzen Welt reißen sich darum, in Leer auftreten zu dürfen.

Im Oktober 2018 geht Berghaus in Pension. Er wohnt seit drei Jahren in einem Wohngemeinschaftsprojekt in Oldenburg. Ob, wie und mit wem „Jazz live im Speicher“ weitergeführt wird, ist noch offen.

Was haben Sie vorher für Musik gehört?

Meine persönliche Musiksozialisation ist nicht über die Beatles gelaufen. Ich hab lieber die Doors, Cream oder John McLaughlin gehört. Ich betone: gehört. Ich spiele kein Instrument und habe mich immer auf das Hören konzentriert. Deswegen mag ich auch nicht so gerne auf Festivals gehen. Da lenkt vieles vom Hören ab. Hören muss man immer wieder neu lernen und neugierig sein und sich überraschen lassen wollen. Das ist eigentlich schon alles, was es braucht, um für jede Musik offen zu sein.

Haben Sie denn hier in Ostfriesland so ein Hör-Publikum für Free Jazz?

Ja und nein. Wir haben hier schon einige Enthusiasten. Aber unser Publikum kommt oft von weit her. Die Leute reisen nicht unbedingt an, um eine bestimmte Gruppe zu sehen. Sie kommen einfach, weil Sie wissen, sie bekommen gute, interessante Musik in einer besonderen Atmosphäre geboten. Unsere ältester regelmäßiger Besucher ist über 80 Jahre alt. Der ist nach seiner Pensionierung extra wegen unserer Jazz-Reihe von Hamburg nach Leer gezogen.

Es gibt in Leer eine ausgezeichnete Musikszene, was Klassik und Orgelmusik angeht. Und es gibt in den beiden Gymnasien exzellenten Musikunterricht. Profitiert ihre Jazz-Reihe davon?

Nein, eigentlich nicht. Die Klassik wird in Leer teilweise sehr eng definiert. Neue Musik, etwa von Schönberg, wird überhaupt nicht aufgeführt. Zu den klassischen Konzerten geht in der Regel ein anderes Publikum als zu uns. Und von den Schulen bin ich ehrlich gesagt etwas enttäuscht. Wir haben versucht, sie in unsere Reihe einzubinden, hatten bislang aber keinen Erfolg. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass wir den SchülerInnen interessante Klangerlebnisse vermitteln könnten.

Sind Ihre BesucherInnen also so was wie eine elitäre Truppe?

Ach, überhaupt nicht. Als der damalige Leiter der Volkshochschule und ich angefangen haben, die Konzertreihe zu entwickeln, wollten wir ein möglich breites Publikum ansprechen. Und da kommen wir schon zum Kern der Sache. Wir sehen Jazz nicht so eng. Uns ist wichtig, Musikerlebnisse anzubieten, die sich im Spannungsfeld von Tradition und Moderne aufbauen. Wir spulen keine Jazz-Standards ab.

Sondern?

Unsere MusikerInnen wollen überraschen. Und unser Publikum ist neugierig und offen. Im letzten Jahr ist zum Beispiel die Sängerin Vesna Pisarovićsamt Band mit einem Elvis-Presley-Programm aufgetreten. Natürlich hat sie die Elvis-Songs nicht einfach nachgesungen. Mit cooler Vokalkunst und einem quer gebürsteten Sound aus Posaune, Kontrabass und Schlagzeug hat sie seine Lieder vielmehr neu entdeckt und sie tatsächlich wieder zu dem gemacht, was sie sind: großartige Songs der Pop-Geschichte. Eine Zeitung schrieb über das Programm: Elvis Presley nackt, ohne Haartolle, Westernboots und Glitzerjacke.

Ist es das, was Sie als Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne beschreiben?

Genau. Ein anderes Beispiel ist die Gruppe Underkarl, die im November nach Leer kommt. Der Drummer Dirk-Peter Kölsch ist ein begnadeter Komponist. Der hat legendäre Musiksolos von Charlie Parker, Sun Ra, Ellington und Charles Mingus aus ihrem Kontext geschnitten und sie für seine Gruppe neu arrangiert. Genial. Und erst im September war das East-West-Trio hier mit Xu Fengxia, die spielt klassische chinesische Saiteninstrumente und singt. Ihre traditionellen Klänge wurden von Sylvain Kassap und Didier Petit auf Klarinette und Cello paraphrasiert. Der Saal war voll. Die Zuschauer sind aus dem Staunen nicht herausgekommen. Das war Begeisterung pur.

Haben Sie keine Angst, Ihre ZuschauerInnen mit solchen Experimenten zu überfordern?

Überhaupt nicht. Eben weil wir den Begriff Jazz sehr weit fassen, sprechen wir auch ein sehr breites Publikum an. Wir erreichen etwa 300 Menschen mit unseren Konzerten. Die kommen natürlich nicht immer alle zu jedem Auftritt. Aber 60 bis 80 Leute zwischen 16 und 80 Jahren sind immer da und das ist toll. Zu dem einen Konzert kommen diejenigen, die gern Gesang hören wollen, das nächste Mal die, denen das Saxofon lieb ist, beim dritten Event kommen welche, die es gern krachen lassen. Wir hatten letztens eine Band, da ging es richtig laut ab. Da hatte ich Angst, die älteren Gäste könnten sauer werden. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Die Alten haben begeistert mitgemacht.

Sie haben ein besonderes Publikum und Sie haben Jazzer mit Weltniveau. Gibt es noch was, was Leer von anderen Spielstätten unterscheidet?

Naja, als wir 1992 mit den Konzerten anfingen, war das kein Sprung ins kalte Wasser. Ich hatte davor schon die Reihe „Beste Musik des Planeten“ organisiert. Das war im Leeraner Jugendzentrum. Immerhin mit Leuten wie Albert Mangelsdorff. Da kam ein spezielles Publikum hin, aber die Erwachsenen ließen sich vom Namen des Veranstaltungsortes abschrecken. Dann haben wir Konzerte in einer Schulaula veranstaltet. Aber da bekamen wir den Geruch von Schule nicht aus dem Klamotten. Als dann 1992 der Leeraner Kulturspeicher, ein neuer Veranstaltungsort in einem historischen Hafenkontor, fertig saniert war, hatten wir unser perfektes Wohnzimmer. Die MusikerInnen schwärmen von der guten Akustik, es ist familiär, ohne beengt zu sein. Da kann man konzentriert zuhören.

Warum gibt es Sie nach 25 Jahren immer noch?

Ich denke, es ist wichtig, auch in schwierigen Situationen durchzuhalten und unbedingt ein hohes Niveau zu garantieren. Und Kontinuität des Programms ist wichtig. In vielen Großstädten kommen und gehen die Klubs. Sie machen mal ein Jahr ein gutes Programm und dann verschwinden sie plötzlich. Wir haben uns unser Publikum erarbeitet. Auch wenn hier in Leer viele Ureinwohner immer noch nicht wissen, was wir machen. Dafür kennen uns die Leute in New York, Boston, Hamburg, Groningen und Bremen. Manchmal spielen bekannte Bands ihr einziges Deutschlandkonzert in Leer. Dann steht in den Booklets ihrer preisgekrönten Alben bei den Ankündigungen ihrer Tour: Oslo, Paris, Leer. Das ist doch was.

Wie kriegen Sie denn die MusikerInnen nach Leer?

Ich habe keine Probleme, unsere Konzertreihe zu füllen. Ich muss die Künstler schon vertrösten oder sogar abweisen. Es vergeht kein Tag ohne Anfragen, ob diese oder jene Band in Leer auftreten kann. Und wenn das Budget nur zehn Konzerte im Jahr zulässt, dann wird es eben eng.

Sie sind 64 Jahre alt und werden nächstes Jahr in Pension gehen. War es das dann mit dem Live-Jazz im Speicher?

Ich hoffe nicht. Aber es ist klar, dass ich ehrenamtlich nicht arbeiten kann. Jetzt mache ich die Arbeit im Auftrag der Stadt und ob jemand anders so einfach die Arbeit übernehmen kann, weiß ich nicht. 25 Jahre, da hängt viel Erfahrung dran und viele Kontakte zu den MusikerInnen. Ob die Stadt nach meiner Pensionierung die Reihe fortführen will und wie und mit wem, das muss sich erst noch zeigen.

Das nächste Konzert der Reihe „Jazz in Leer“: Dienstag, 17.10.2017, 20 Uhr, Kulturspeicher, Leer

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