Wow-Faktor in den Hohen Tauern: Posing im Abendlicht

Possierliche Tierchen, malerische Berge, Themenwanderwege: Wie stark darf Natur inszeniert werden – oder braucht sie das sogar?

Murmeltier vor Bergen

Kuschelfakter 11 bei den Tieren in den Hohen Tauern. Foto: Foto: imago/Europa

Das Murmeltier schlägt alles. Den angeblichen Bartgeier vom Vormittag sowieso, der zwar viel seltener ist, aber selbst durch das Fernglas kaum zu erkennen war. Und auch die Steinböcke, die sich neben der ab dem Spätnachmittag gesperrten Großglocknerstraße am Berghang tummeln: Der eine kratzt sich mit seinen meterlangen Hörnern ausgiebig das Hinterteil, zwei sind im Kampf verhakt, die anderen tragen ihren Kopfschmuck scheinbar unbeeindruckt spazieren. Posing im Abendlicht. Austrias next Top Capricorn Model auch.

Trotzdem, mit dem Murmeltier können sie nicht mithalten. Kuschelfaktor 11 auf einer Skala von 1 bis 10: flauschig graubraun der Pelz, schwarz die lustigen Knopfaugen. Und ganz schön zutraulich. Kein Warnpfiff – so von wegen einmal pfeifen heißt Vorsicht, latente Bedrohung, kurz und mehrmals pfeifen höchste Gefahr, ab in die Höhle. Aber hier kommt die Mischung aus Riesenmaus und Katzenjungem – ein halber Meter Plüschtier plus Schwanz – einfach nur neugierig herangewatschelt.

Aber wo bleibt die Angst vor dem Menschen? Immerhin werden Murmel hier gejagt, auch wenn gerade Schonzeit ist und nur von Mitte August bis Mitte Oktober geschossen werden darf. Weiß das Tier das? Egal. Bestimmt könnte man es füttern, wenn man etwas dabeihätte. Die Nase jedenfalls schnuppert ganz schön fordernd an den fremden Fingern. So was von putzig.

Die unverhoffte Tierbegegnung, ein Sonnenuntergang, ein Schneesturm: Wolfgang Urban ist es egal, worüber man sich freut. „Hauptsache, es gibt diesen Wow-Faktor“, sagt er. Der schmale Endvierziger mit langsam grau werdenden Stoppeln auf dem Kopf und kariertem Hemd, leitet die Verwaltung des Nationalparks Hohe Tauern. Der mit 1.856 Quadratkilometern größte Schutzraum der Alpen erstreckt sich über Teile der Bundesländer Kärnten, Salzburg und Tirol, zwei Millionen Besucher kommen jedes Jahr. „Wir wollen, dass die, die hierherkommen, etwas Lustvolles mitnehmen.“

Die Region: Der Nationalpark Hohe Tauern ist mit 1.836 Quadratkilometer der größte Nationalpark in Österreich, die Kernzone ist hochalpines Gebiet. Zur Region gehören zwanzig Orte in drei Bundesländern, darunter Kaprun, Mittersill, Bad Gastein und Rauris. Die meisten sind mit der Bahn zu erreichen, alle bieten Mobilität ohne Auto. www.nationalpark.at

Der Einstieg: Nationalpark Welten Mittersill – eine umfangreiche Erlebnisausstellung, www.nationalparkzentrum.at

Das Angebot: viele Themen- und Lehrwege, aber auch ein umfangreiches normales Wanderwegenetz, Bergsteigen. Einer der Hotspots ist die Großglockner Hochalpenstraße, die bis auf 2.500 Meter führt und auch mit dem Postbus etwa von Zell am See befahrbar ist. Neben etlichen Ausstellungen sind relativ sicher Murmeltiere und Steinböcke zu sehen. www.grossglockner.at

Lernen durch Erleben

Nicht einfach nur, damit sie wiederkommen. Das auch – schließlich ist es viel leichter, den Politikern Geld für Naturschutz aus dem Kreuz zu leiern, wenn man ihnen volle Touristenbusse zeigen kann. Aber es geht auch um Didaktik. Denn das Nationalparkkonzept hat drei Ziele: Natur bewahren, sie dem Menschen zugänglich machen und ihnen ein bisschen Umweltbildung vermitteln. „Und da sind Rechtsanwälte und Ärztinnen nicht anders als Schulkinder“, sagt Urban: „Sie lernen am besten, wenn sie etwas erleben.“ Kann sein, dass man ihnen und der Natur dabei ein bisschen helfen muss. Nicht jeder ist achtsamkeitserprobt.

Die Nationalparkverwaltung macht das mit einem Ranger-Programm, mit Themenwegen und mit Ausstellungen. Aber ist das nicht das, worüber Umweltpsychologen schon lange diskutieren, was Alpenpapst Werner Bätzing gerade erst wieder angeprangert hat? Dass Urlaub in den Bergen als verstaubt gilt: Immer mehr wird inszeniert, alles muss ein Event sein, eine Herausforderung, möglichst extrem, gern auch gefährlich – kaum möglich, die Berge unbehelligt zu erwandern, ständig Downhiller, also quer über die Abhänge und durch die Wälder rasende Mountainbiker, startende Paraglider.

„Man muss auch Langeweile aushalten, um wirklich etwas zu erleben“, sagt Bätzing.Urban sieht da aber noch Unterschiede zwischen Naturinszenierung und alpinem Freizeitpark: Der Nationalpark habe einen klaren Auftrag: „Wir helfen nur, aber wir verändern nicht.“ Mit Rangern können die Besucher Wildtiere beobachten, Steinadler und andere Greifvögel, Steinböcke und -geißen. Und erfahren, dass etwa der Bartgeier hier seit Ende der 1980er Jahre wieder angesiedelt wird, aber auch, dass jede vierte Wirbeltierart, die hier lebt, auf der Roten Liste der gefährdeten Tiere Österreichs steht.

Verstaubt?

Themenwege führen die Besucher an ausgewählte Hot Spots, zu grandiosen Ausblicken, an Kaskaden von Wasserfällen – und vermitteln dazu dezentes Hintergrundwissen, manchmal mit Tafeln, manchmal verspielt, auch schon mal mit elektronischen Gadgets. Verstaubt?

Ausstellungen wie die Nationalparkwelten in Mittersill können das natürliche „Inventar“ erlebbar machen, den Besuchern auch Pflanzen, Tiere, Täler, Zusammenhänge zeigen, die in der freien Natur entweder grundsätzlich oder zu der gerade herrschenden Jahreszeit unzugänglich sind. Hier sind die Berge in einem gigantischen, zwischen den Stockwerken schwebenden Massiv nachgebildet.

„Hierher kommt man, um einen ersten Eindruck zu bekommen, aber auch, wenn man selbst nicht so viel wandern kann – weil man keine Zeit hat, die Kinder noch nicht so mobil sind oder man die dementen Eltern dabei hat, die sich freuen, wenn sie gefahrlos Exponate anfassen dürfen – den Gletscher, den Fels, die Tiere“, sagt Urban.

Gerade kein Event-Tourismus

Auch Andreas Rofner findet, dass er als Ranger bei der Nationalparkverwaltung Tirol gerade keinen Event-Tourismus fördert. Tatsächlich seien die Grenzen zwischen Naturerlebnis und der Sucht nach dem Kick auch beim angeblich traditionellen Bergwandern und vor allem Bergsteigen längst verwischt. Der Hochgebirgsbotaniker ist selbst auf allen Dreitausendern Österreichs gewesen. Und nun führt er beispielsweise Wanderer durch das Ködnitztal vor der majestätischen Kulisse des Großglockners.

Erst seit wenigen Jahren sei der höchste Berg des Landes zum Publikumsmagneten geworden, sagt Rofner. Zu Stoßzeiten schlafen die Bergsteiger in der Stüdlhütte, von der es frühmorgens am besten Richtung Gipfel geht, schon auf Tischen und Bänken. „Und wenn andere Bergsteiger sehen, dass dort viel los ist, denken sie, es sei nicht besonders gefährlich.“

Tatsächlich überfordert der Berg aber so manchen. An schönen Tagen, erzählt Rofner, kreisten dort oben die Hubschrauber und holten nicht nur die Ausgepowerten und Verletzten ab, sondern auch jeden aus dem Steig, der zu lange unterwegs ist und den Weg blockiert. Da von hier aus auch die Materiallifte auf die oben gelegenen Hütten gehen und die weit über dem Boden gespannten Seile aus der Luft kaum zu sehen sind, ist jeder Einsatz gefährlich für Retter wie Gerettete. Gigantische orangefarbene Pfeile an den Berghängen sollen das Risiko für die Piloten mindern, stören aber auch das Landschaftsbild empfindlich.

Themenwege lenken die Besucherlawinen

Wie viel entspannter, wenn auch keineswegs unanstrengend ist da der untere Teil der Route, der zum Themenweg ausgebaut ist. Er beginnt am Lucknerhaus auf 1.920 Meter Höhe, schlängelt sich am Bach entlang durch Lärchenwald hinauf. Gras und Moos überall, immer wieder kreuzen kleine Rinnsale den Weg. Schon nach wenigen hundert Metern ist ein kleines Schneefeld zu überqueren, der Pfad wird steiniger und steiler, der Blick offener. Nach einer Stunde kommt die Lucknerhütte in Sicht, 2.200 Meter über NN, das ist noch mal eine ordentliche Steigung – aber Skiwasser und Holundersaft locken, sodass das letzte Stück ganz schnell geht. Für zwei Drittel der Wanderer ist das hier der höchste Punkt, nur wenige ziehen weiter bergan.

Eine Idee bei den Themenwegen ist es, die Besucherlawine zu lenken. Rund 1,8 Millionen Menschen sind im Sommer im Nationalpark Hohe Tauern unterwegs. Besser, wenn sie einigermaßen kontrollierbar sind.

„Wir fördern bewusst Vollkaskomentalität“, sagt Florian Jurgeit, der den Bereich Naturschutz und Öffentlichkeit in der Nationalparkverwaltung Tirol leitet: Die Wege sind so angelegt und ausgeschildert, dass immer klar ist, wo es langgeht, ohne Karte, ohne GPS.

Eigentlich ist es ein Vollkasko-Pauschalangebot: Die Startpunkte sind in der Regel mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, die Routen auf eine Gehzeit von nicht mehr als drei Stunden ausgelegt, und dann gibt es immer auch ein Gasthaus auf halbem Weg und noch mal am Schluss. Bequemer geht’s nicht.

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