Zeitung gestern und morgen: Im Raum voll der schönsten Frauen

Auch als die erste Nummer der taz erschien, musste alles schnell gehen. Eine Erinnerung an eine Zeit, die von heute aus betrachtet gemütlich wirkt.

Archivkeller im taz-Gebäude. Wie viele Bäume mussten schon sterben, damit diese Zeitung erscheinen konnte? Bild: Wolfgang Borrs

Als die taz gegründet wurde, wohnte sie im Wedding. Wenn man aus der Haustür trat und nach links schaute, sah man die Mauer. Nach rechts auf die Rathenau’sche AEG. Im Verputz der Häuser und manchmal auch im Mauerwerk konnte man noch die Einschusslöcher aus den Straßenkämpfen der letzten Tage des Zweiten Weltkrieges sehen.

Wer aus Westdeutschland – so hieß das damals – kam, der staunte. Frankfurt am Main, die Stadt, aus der ich kam, war total zerbombt gewesen, aber als ich 1979 in Berlin eintraf, war sie längst wieder aufgebaut. Lückenlos. Während in Berlin mitten in der Stadt Brachen lagen, auf denen man machen konnte, was man wollte.

Der Mailänder Schriftsteller Nanni Balestrini kam damals nach Berlin. Die Stadt gefiel ihm. Nicht nur, weil er in Italien gesucht wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, sondern weil er in Berlin die Lederjacken der Revolution und das schmutzig-wilde Leben zu einem viel niedrigeren Preis als in Mailand genießen konnte. Eines Tages verblüffte er mich mit folgendem Satz: „Weißt du, Berlin ist so ruhig, eine Rentnerstadt!“ Er hatte recht.

Diesen und viele weitere spannende Texte lesen Sie in der 10.000sten Ausgabe der taz. Am Dienstag, den 8. Januar 2012, am Kiosk oder eKiosk. In der Ausgabe schreiben ehemalige und jetzige taz-RedakteurInnen, was sie schon immer einmal schreiben wollten.

Berlin ist die ruhigste Großstadt – wenn es denn eine ist – der Welt. Eine Weile lang verließ ich fast täglich gegen zwölf Uhr die Redaktion, ging zum U-Bahnhof Gesundbrunnen und fuhr von dort aus hinunter zum Zeitungskiosk am Bahnhof Zoo. Ab halb eins gab es dort Le Monde, La Repubblica, The Times, El País und vor allem Libération.

Dann ging es zurück, und noch in der U-Bahn durchblätterte ich die Zeitungen auf der Suche nach etwas, das die Leser der taz interessieren könnte. Etwas also, das ins Weltbild passte oder ihm deutlich widersprach. Heute kann jeder zu jeder Zeit auf onlinenewspapers.com Zeitungen und Zeitschriften aus aller Welt abrufen. Mehr als zweihundert allein in Indien. In der Redaktion von damals bekamen wir Informationen über den Ticker genannten Fernschreiber, eine hölzerne Maschine, so laut, dass sie in einen Extraraum musste. Hier kamen Fernschreiben an, hier versendete man sie.

Als Herbert Marcuse am 29. Juli 1979 starb, fragte La Repubblica, was wir zu seinem Tod machen würden. „Einen Text von Dutschke über Marcuse.“ Der Redakteur der damals auch gerade erst drei Jahre jungen römischen Tageszeitung war elektrisiert. Er wollte den Text sofort haben. Wir konnten niemanden freistellen, der das Riesenstück abtippte. So flog ich nach Rom, gab den Text dort ab und dachte: Jetzt ein paar Tage Urlaub wären nicht schlecht. Ich wollte meine Freundin fragen, ob sie nicht kommen könnte. Ich wollte das nicht von der Repubblica aus machen, also ging ich zum Hauptbahnhof.

Dort gab es unterirdisch einen riesigen Raum mit Telefonzellen und ein paar dezent uniformierten Damen, bei denen man seinen Telefonwunsch vortrug. In der Mitte standen, wenn ich mich recht erinnere, Kunstledersessel und -bänke, auf denen man wartete, bis es hieß: „Francoforte la dodici.“ Der Raum war – ich werde das nie vergessen – voll der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen habe. Sie kamen aus Saudi-Arabien, waren natürlich – 1979 – unverschleiert und angezogen wie aus Tausendundeiner Nacht. Mit Goldreifen um die Armgelenke, mit Schleifen und Schmuck in den blauschwarzen, geglätteten oder lockigen Haaren. Dreißig, vierzig Frauen. Eine Zauberhöhle.

Die letzten 10.000

Ich erzähle das nicht nur um der alten Zeiten willen. Ich erzähle das, weil mir dabei klar wird, dass es alte Zeiten sind. Auch in Berlin erinnert kaum noch etwas an den Zweiten Weltkrieg, und auch vom Kalten Krieg gibt es nur noch wenige Spuren. Es ist eine Zeit, in der es nur ARD und ZDF gab. Kein Handy und schon gar nicht den wahren Revolutionär, das Internet. Die Zeitung stammt aus jener fernen Zeit. Ein Journalist zu sein, also jemand, der die Nachrichten des Tages zusammenbringt und kommentiert, hieß mitzumachen bei der „täglichen Hatz“.

Wie gemütlich sich das von heute aus ausnimmt. Man betrachte sich nur den Produktionsablauf. Ich interviewte Herbert Gruhl, Abgeordneter der CDU, Mitbegründer der Grünen. Ich tippte das Interview ab, die Abschrift gab ich in den Computersatz – die taz war modern. Sie hatte von Anfang an keinen Bleisatz –, dann korrigierte ich das Ergebnis. Diese Fassung ging an den Layouter. Von der fertigen Seite wurden Filme gezogen, diese in die Druckerei gebracht, dort gingen sie auf die Druckmaschine. Riesenrollen Papier standen bereit. Die fertigen Zeitungen wurden mit einem kleinen Fuhrpark von Autos verteilt.

Den Vertrieb zu organisieren war eine Meisterleistung, denn Springer, so hieß es damals bei uns, intervenierte immer wieder, um Kioskbesitzer davon abzubringen, die taz zu verkaufen. Am Ende war das Blatt dann bei ein paar zehntausend Menschen, von denen zwei, drei Dutzend das Gruhl-Interview vielleicht gelesen haben mögen.

Das ist alles ja nicht nur irre teuer, ökologisch verbrecherisch, es ist auch von einer biedermeierlich anmutenden Umständlichkeit. Es hat etwas von jener tapernden, ängstlichen Umständlichkeit, mit der alte Menschen eine Rolltreppe verlassen.

Wir sollten abspringen von der Zeitung. Wenn ich sie in der Hand halte, ist sie um mindestens zwölf Stunden überholt. Mit Nachrichtenübermittlung hat sie nichts mehr zu tun. Niemand glaubt wirklich, sie könne das durch Hintergründigkeit wettmachen. Wer Deutschlandfunk hört, weiß, wie unsinnig die Vorstellung ist, Reflexion habe exklusiv etwas mit Druck und Papier zu tun.

Die Tageszeitungsbranche gibt es nur darum noch, weil zwar täglich weniger, aber doch immerhin noch verdient wird mit ihr. Während man keine Ahnung hat, wie man mit Journalismus online Geld verdienen kann und nun gar noch in den Mengen, an die sich die regionalen Monopolisten der Nachkriegszeit gewöhnt haben.

Noch einmal 10.000 Ausgaben wird es von der taz nicht geben. Aber nicht, weil sie gestorben sein wird. Sie wird leben. Besser leben als zuvor. Und besser als viele ihrer heute mächtigen Konkurrenten. Online.

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