Zeitungsprojekt in der Ostukraine: Wo ist der Spaß in Nikolajewka?

Die taz Panter Stiftung fördert SchülerInnen, die in der Ostukraine eine eigene Zeitung machen.

Die SchülerInnen nach der Produktion ihrer Zeitung. Bild: Голоса города

Man kann sich die ukrainische Medienlandschaft wie Deutschland im Mittelalter vorstellen. Eine Ansammlung großer und kleiner Fürstentümer, die von unterschiedlich mächtigen Potentaten regiert wird. Der Fernsehkanal Inter hat starke Verbindungen zu Serhij Ljowotschkin, dem früheren Chef der Präsidialverwaltung unter dem gestürzten Wiktor Janukowytsch, und zu dem Oligarchen Dmytro Firtasch. Der Sender Channel Ukraine wird von Rinat Achmetow kontrolliert, dem wohl reichsten Mann der Ukraine, der unter anderem Stahl- und Kohleunternehmen besitzt. Ihor Kolomojskyj, dem die größte Bank der Ukraine gehört, hat großen Einfluss beim Sender 1+1. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Die medialen und damit die öffentlichen Diskurse bestimmen in der Ukraine reiche Männer.

Die Frage ist, ob sich daran etwas ändern lässt. Alternativen aufzubauen kostet Geld, das viele in der Ukraine nicht haben. Deswegen könnte eine Möglichkeit sein, Medien aufzubauen, für die es gar nicht so viel Geld braucht.

Mitte Oktober 2015 wurde in Nikolajewka, einer Stadt in der Ostukraine, die erste Ausgabe der Zeitung Голоса Города, zu Deutsch „Stimmen der Stadt“, veröffentlicht. Sie wird von 20 Mädchen und Jungen an der dortigen Schule Nummer 3 gemacht. Zwei deutsche und drei ukrainische JournalistInnen haben ihnen dabei geholfen.

Vor dem Krieg hatte Nikolajewka mehr als 15.000 Einwohner, im Sommer 2014 kämpften Separatisten und ukrainische Armee um die Stadt, seither leben weniger Menschen dort, genaue Zahlen gibt es derzeit nicht. Zu Sowjetzeiten erschien in Nikolajewka 40 Jahre lang die Zeitung Lenins Wort. Sie existiert nicht mehr. Seit August 2013 gab es eine Lokalzeitung, doch seit den Kämpfen in der Region ist sie verschwunden. Das lokale Kraftwerk, einer der größten Arbeitgeber in der Region, publiziert das Magazin Unsere Generation, eine Art Firmenzeitung und eine Wiederholung des großen ukrainischen Medienproblems im Kleinformat, denn auch diese Publikation dient den Interessen eines in dieser Gegend mächtigen Unternehmens.

Nachdem Nikolajewka im Herbst von der ukrainischen Armee erobert worden war, kamen Freiwillige in die Stadt, um die Schule Nummer 3 wiederaufzubauen. Die Freiwilligenbewegung ist eine der Folgen des Maidan, ohne diese Volontäre wäre vieles im Land schon zusammengebrochen. Unter den Freiwilligen war auch der deutsche Regisseur Georg Genoux, der viele Jahre in Russland gearbeitet hat und in Nikolajewka ein Theaterstück mit den SchülerInnen der Schule Nummer 3 aufführte. Darüber schrieb Daniel Schulz für das Wochenendmagazin der taz eine Titelgeschichte. Dabei entstand die Idee für eine Zeitung.

Ein tolles Endprodukt, die fertige Zeitung. Bild: taz

„Während der Recherchen für diese Geschichte, haben mir die Schülerinnen und Schüler sehr viel Vertrauen entgegengebracht“, sagt Daniel Schulz. „Ich wollte wiederkommen und etwas mit ihnen zusammen machen.“ Er kam zusammen mit Marco Zschieck, der für das Onlineressort der taz arbeitet. Beide hatten zusammen mit Freunden bereits schon einmal eine Zeitung gegründet, während ihres Studiums in Leipzig. Sie ist im November 15 Jahre alt geworden. Damals hatten sie sechs Monate gebraucht, bis die erste Ausgabe erschien, dieses Mal hatten sie drei Wochen. Sie brachten zwei alte Computer aus der taz mit nach Nikolajewka, außerdem halfen ihnen drei ukrainische Kolleginnen. Zwanzig Kinder im Alter von 12 bis 16 Jahren machten mit. In der ersten Woche diskutierten die JournalistInnen mit den Kindern Themen und übten das journalistische Arbeiten. So gingen die SchülerInnen in Zweiergruppen durch die Stadt und hatten die Aufgabe, die Geschichte eines Menschen mit einem Foto und fünf Zitaten zu erzählen. In den anderen beiden Wochen arbeiteten die SchülerInnen an den Texten und am Layout. Sie bestimmten jedes Detail ihrer Zeitung selbst. Sie wählten den Namen, Schriften, sie erstellten eine Facebook-Seite und sie lernten, wie man eine Zeitung mit dem freien Programm Scribus designt. Die SchülerInnen sollten jeden Schritt selbst machen und verstehen, um später auch ohne professionelle Hilfe publizieren zu können.

Die Redaktion wählte als Oberthema für die erste Ausgabe die Frage: „Wo ist der Spaß in Nikolajewka?“ Hinter dieser Frage steckt die normale Genervtheit von Teenagern über die Gemächlichkeit einer kleinen Stadt, aber zugleich ein Thema, das im Osten der Ukraine überall virulent ist: Warten wir darauf, dass uns der Staat oder sonst jemand zu einem besseren Leben verhilft, oder nehmen wir das selbst in die Hand? „Wir machen diese Zeitung für euch, für die Einwohner dieser Stadt“, schreibt Alina Kobernik, Schülerin der 11. Klasse und Chefin des Foto-Ressorts, im Editorial der ersten Ausgabe. „Dies hier soll die erste unabhängige und wirklich interessante Zeitung in Nikolajewka werden.“ Die Zeitung entstand zwar an einer Schule, doch das Ziel war ganz klar, eine Zeitung für die ganze Stadt zu machen.

Das findet sich auch in den Texten wieder. Auf der Seite drei steht eine Reportage über das Nachtleben, das es auch in einer Stadt wie Nikolajewka gibt. Die Schüler interviewten Menschen, die in der Stadt etwas auf die Beine gestellt haben oder das noch tun wollen, ein Kulturzentrum oder ein Hockeyspiel, und fragten sie, mit welchen Schwierigkeiten sie sich konfrontiert sehen. Den Druck der 1.000 Exemplare finanziert die taz Panter Stiftung. Es ist derzeit schwer zu sagen, ob dieses Beispiel einer selbst organisierten Zeitung von Schülern auch an anderen Orten in der Ukraine wiederholt werden kann. Natürlich ist es kein perfektes Modell. Die Schüler sind trotz aller Trainings keine professionellen Journalisten und das spiegelt sich auch in der Qualität der Texte. Es ist auch nicht ausgemacht, wie sie reagieren, falls jemand versucht, sie zu manipulieren oder unter Druck zu setzen. Und eine Lokalzeitung, deren Redakteure nicht bezahlt werden und die umsonst verteilt wird, könnte auch das Entstehen einer Presse verhindern, mit der Journalisten ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Olena Makarenko ist Journalistin und Aktivistin aus Kiew. Für Zeitungen und Fernsehen berichtet sie über internationale Politik, Sozialthemen, Sport, Werbung und Marketing. Seit 2014 arbeitet Olena Makarenko außerdem als Volontärin für Initiativen, die sich dem Aufbau von Zivilgesellschaften widmen und den Dialog zwischen verschiedenen Regionen in der Ukraine fördern. Sie war bei dem Projekt in Nikolajewka zwei Wochen lang dabei.

Aber das Beispiel Nikolajewka zeigt, dass diese Zeitung gebraucht wird. Die mühevolle Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Krieg haben viele Institutionen gerade in den ländlichen Gebieten der Ukraine nicht überlebt. Es gibt oftmals kaum Orte, an denen ein gesellschaftliches Gespräch noch geführt werden kann, eine Verständigung darüber, was in einer Gemeinde wie Nikolajewka passiert, was die Menschen dort kritisieren, was sie sich wünschen. „In dieser Stadt kennen sich alle schon so lange, dass wir niemals nach Einzelheiten fragen“, schreibt Viktoria Gorodinska, Schülerin der neunten Klasse und Chefredakteurin der Zeitung. „Wir wollen wissen, wer die Menschen sind und was sie tun.“

Nachdem die Zeitungen in Kramatorsk gedruckt wurden, holte sie der Vater einer Schülerin mit dem Auto ab. Die Redakteure verteilten sie in der Stadt. Weil die 1.000 Stimmen der Stadt nicht ausreichten, gaben viele Leute ihr Exemplar an jemand anderen weiter. Inzwischen gibt es bereits die zweite Ausgabe, die dritte soll am 23. Dezember erscheinen. Beide werden von der taz Panter Stiftung bezahlt, aber die Schüler machen die Zeitung ansonsten völlig ohne fremde Hilfe.

Olena Makarenko, Journalistin und Aktivistin aus Kiew.