Zugvögel im Wattenmeer: Verhungert mit vollem Magen

Das Wattenmeer der Nordsee ist die wichtigste Nahrungsquelle für Millionen Zugvögel. Viele von ihnen leiden unter den Klimawandel-Folgen.

Eiderenten im Flug dicht über der Wasseroberfläche

Für die Eiderenten sind Miesmuscheln eine wichtige Nahrungsquelle Foto: imago/blickwinkel

Als das Phänomen vor einigen Jahren zum ersten Mal auftrat, standen die Forscher vor einem Rätsel. Im Winter wurden massenhaft tote Eiderenten an die Nordseeküste gespült. Woran sie gestorben waren, konnte niemand erklären. Weder vergiftet noch krank waren die Tiere. Nach eingehender Untersuchung stellte sich heraus: Sie waren verhungert und zwar mit vollem Magen.

Professor Franz Bairlein, Direktor der Vogelwarte Helgoland, erklärt: „Die Hauptnahrung von Eiderenten sind Miesmuschel. Die verschlingen sie im Ganzen, erst im Magen wird die Schale aufgebrochen und der Inhalt verdaut.“ Die Menge der Muscheln, die Eiderenten aufnehmen können, ist somit begrenzt, jedoch hat sich die Zusammensetzung ihrer Nahrung verändert.

Muscheln sind wechselwarm. In wärmeren Wintern ist ihr Stoffwechsel höher als in kühlen. Seit den 1980er Jahren ist die Wassertemperatur des Wattenmeers um 1,5 Grad Celsius gestiegen. Daher haben die Muscheln begonnen, in den Wintermonaten zunehmend eigene Fettreserven zu verdauen.

Die Folge: Ihr Energiegehalt ist viel geringer. Obwohl Eiderenten haufenweise Muscheln fressen, verhungern sie. So hatte sich bis zum Jahr 2006 der Winterbestand an Eiderenten im niedersächsischen Wattenmeer halbiert.

Das Wattenmeer entlang der Westküste von Dänemark, Deutschland und den Niederlanden ist das größte zusammenhängende Wattgebiet der Erde mit einer Gesamtfläche von 14.700 Quadratkilometern. 2009 wurde es zum Unesco-Weltnaturerbe ernannt. Es produziert jährlich etwa 20 Tonnen Biomasse pro Hektar, etwa so viel wie ein tropischer Regenwald. Dieses reiche Nahrungsangebot macht das Wattenmeer zum Dreh- und Angelpunkt für den ostatlantischen Vogelzug.

Art: Eiderenten (Somateria mollissima) sind Meerenten, also Tauchenten, die sich vorwiegend auf dem Meer aufhalten. Mit etwa 60 Zentimeter Körperlänge gelten sie als eine der größten Entenarten. Brust und Bauch des Erpels sind leuchtend weiß, das Gefieder an Oberkopf, Flanken und Schwanz ist schwarz. Sein charakteristischer keilförmiger Schnabel reicht bis an die Stirn. Weibliche Eiderenten sind kleiner und unauffälliger mit einem braun gebänderten Gefieder.

Brutplätze: Eiderenten brüten hauptsächlich an arktischen Küsten, die größten Brutkolonien von bis zu 1.000 Paaren findet man auf Island.

Federn: Die Daunen der Eider­enten sind die wärmsten und teuersten weltweit. Normalerweise werden sie aus den Nestern geerntet, nachdem die jungen Enten ausgezogen sind.

Mehr als 40 verschiedene Zugvogelarten sind auf die Region angewiesen. Vögel aus dem Baltikum wie etwa die Eiderente überwintern dort. Für andere Arten ist es der wichtigste Zwischenstopp auf ihrer Reise in wärmere Gefilde. Nicht alle Vögel sind auf Miesmuscheln als Nahrung angewiesen, trotzdem macht ihnen der Klimawandel zu schaffen, auf eine andere Art.

Zählungen im Rahmen des internationalen Joint Monitoring of Migratory Birds (JMMB) Programme haben ergeben, dass von 6 Millionen Vögeln im Wattenmeer, sogenannte Watvögel mehr als die Hälfte ausmachen. Ihr Name kommt daher, dass sie auf langen Beinen durch den schlammigen Meeresboden waten. Dabei stochern sie mit dem Schnabel nach Nahrung, etwa nach Wattwürmern, Krebsen, Schnecken oder Muscheln.

Treibstoff für den Weiterflug

Bekannte Watvögel sind zum Beispiel Knutt, Pfuhlschnepfe oder Alpenstrandläufer. Diese Arten brüten in der Arktis und überwintern in Westafrika. Im Herbst und Frühling nutzen sie das Wattenmeer als Zwischenstation, um Treibstoff zu tanken für den Weiterflug. Auf Nahrungssuche können sie nur bei Ebbe gehen, wenn sich das Wasser vom Meeresboden zurückzieht.

Genau das könnte ihnen künftig zum Verhängnis werden. „Watvögel haben am Tag nur wenige Stunden Zeit, um zu fressen. Der Meeresspiegel steigt stetig an, und die Wattflächen, die bei Niedrigwasser frei liegen, werden kleiner“, erklärt Vogelexperte Bairlein.

Das bedeutet, die Tiere finden weniger Nahrung in dem ohnehin schon kleinen Zeitfenster. Reichen die Energiereserven der Vögel für den Weiterflug nicht aus, sterben sie unterwegs an Erschöpfung. Bairlein zufolge sind Störungen durch den Menschen ebenfalls ein wichtiger Faktor, denn jedes Mal, wenn die Tiere aufgescheucht werden, schwinden die Fettpolster ein kleines bisschen mehr.

Künftig gibt es häufiger Hochwasser

Die niederländische Delta-Kommission, deren Aufgabe es ist, das Land vor Sturmfluten zu schützen, rechnet bis 2100 mit einem regionalen Meeresspiegelanstieg von bis zu 1,30 Meter. Der Wert liegt weit über dem globalen Durchschnitt, da in der Nordsee Faktoren hinzukommen, wie etwa Änderungen in der Gezeitendynamik oder Bodenverluste durch Gas- und Ölförderung. An den Nordseeküsten wird es künftig häufiger zu Hochwasser kommen.

Das betrifft vor allem die Salzwiesen vor den Deichen. Die nutzen bodenbrütende Vogelarten, um ihren Nachwuchs aufzuziehen. Zu den Küstenbrütern gehört zum Beispiel der Rotschenkel, ein kleiner Schnepfenvogel mit charakteristischen grellroten Beinen. Während der Balz baut das Männchen gut versteckt zwischen hohem Gras gleich mehrere Nester. Das Weibchen sucht sich das Schönste aus und legt drei bis fünf Eier hinein. Zum Brüten wechseln sich beide ab, nach 26 Tagen schlüpfen die Jungen, die bereits sehen, hören und laufen können.

Während die Eltern Nahrung suchen, verstecken sich die braun gesprenkelten Küken im Gras. Droht Gefahr sind die Eltern sofort zur Stelle und fliegen dem Feind mit viel Geschrei entgegen. Allerdings gibt es Umweltfaktoren, gegen die die fürsorglichen Vogeleltern machtlos sind. Denn der Zeitraum für die Aufzucht der Jungen schrumpft. Immer häufiger kommt es zu Sommerhochwassern, die fatal sind für den Nachwuchs: Nester werden zerstört, Eier einfach weggespült, und bereits geschlüpfte Küken ertrinken.

Von dem Phänomen betroffen sind noch weitere an Küsten brütende Vogelarten wie Löffler, Austernfischer, Säbelschnäbler, Lachmöwen und Flussseeschwalben. Letztere haben noch ein weiteres Problem: Mit den steigenden Wassertemperaturen nehmen auch Niederschläge und Stürme in den Küstenregionen zu. Die schlanken, möwenähnlichen Vögel mit den spitz zulaufenden Flügeln sind geschickte Stoßtaucher.

Unruhige See

Sie füttern ihren Nachwuchs mit Hering und anderen kleinen Fischen. Um diese zu erbeuten, fliegen Flussseeschwalben über die Wasseroberfläche und suchen sie mit den Augen ab. „Wenn Sturmperioden zunehmen, ist die Wasseroberfläche stark gekräuselt, und die Flussseeschwalbe sieht den Fisch nicht“, erklärt Gregor Scheiffarth von der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer.

Steigende Wassertemperaturen hätten auch zur Folge, dass die Fische im Sommer kühlere Gewässer aufsuchen. Für fischfressende Seevogelarten, die hauptsächlich in Küstennähe jagen, werde es immer schwieriger, Nahrung zu finden. Laut aktuellem Sachstandsbericht des Weltklimarats ist die durchschnittliche Lufttemperatur im 20. Jahrhundert um 0,85 Grad Celsius gestiegen. Die Winter werden milder, auch an der Nordsee. Scheiffarth zufolge hat es bei fast allen Zugvogelarten Veränderungen im jahreszeitlichen Auftreten gegeben, die man plausibel mit dem Klimawandel erklären kann.

„In der Regel gab es in Europa eine Verschiebung der Winteraufenthaltsgebiete Richtung Nordosten, also Richtung Wattenmeer“, sagt Scheiffarth. Welche Folgen diese Entwicklung für das Ökosystem haben wird, ist derzeit noch unklar.

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