Zukunft der Bundeswehr: Geisterstadt Schnöggersburg

Hochhäuser, Kirche, U-Bahn – alles Attrappe: In Sachsen-Anhalt entsteht für 100 Millionen Euro ein virtueller Kriegsschauplatz.

Eines Tages, mein Sohn, kannst du das alles zusammenschießen. Bild: dpa

LETZLINGEN/ MILTERN taz | Die Panzer haben sich ins Camp zurückgezogen, bis zum Horizont Grasbüschel, Gestrüpp. Die Piste führt nach Masar-i-Scharif. Staub wirbelt hoch, Oberstleutnant Peter Makowski lotst den Kleinbus, jetzt ungeschützt, durch die Ödnis. Nur noch rechts den Weg hinauf, dann müsste die Silhouette von Masar auftauchen, der 260.000-Einwohner-Metropole in Nordafghanistan. Oder ist es Prizren? Vielleicht Timbuktu? Oder doch Magdeburg? Und wer hat die rosafarbenen Dixi-Klos dorthin gestellt?

„So, wir sind jetzt schon im urbanen Raum.“ Peter Makowski bereitet der Illusion ein schnelles Ende. Der Oberstleutnant, ein stämmiger Typ, springt aus dem Bus und lässt den Blick über das Gelände schweifen. „Die Rodung hat schon begonnen“, sagt Makowski zufrieden.

Ein Notstromaggregat blubbert, Minensucher ziehen übers Gelände. Wenn sie alle Blindgänger geortet haben, wird sich hier eine Stadt erheben, wie sie in Europa einmalig ist. Sie hat all das, was andere Städte auch haben, Hochhäuser, ein Stadion, ein Krankenhaus, einen Stadtwald, auch eine U-Bahn und ein Botschaftsviertel, nur Bewohner hat sie nicht. Diese Stadt ist eine Attrappe, ein Phantom, um Kriegsschauplätze in aller Welt zu simulieren.

„Wir haben eine Altstadt, eine Neustadt, eine Stadtautobahn, die Kanalisation ist 1,5 Kilometer lang und begehbar“, spult Makowski routiniert ab. Dazu kommen Müllhalde, Trümmerfeld, Elendsviertel und die Moschee, die mit wenigen Handgriffen zur Kirche umfunktioniert werden kann. Oder umgekehrt. Hier, im dünnbesiedelten Norden von Sachsen-Anhalt, umgeben von einem undurchdringlichen Gürtel aus Wald, ist für 100 Millionen Euro eine Retortenstadt im Werden, eine Mischung aus Kinshasa, Timbuktu und Bagdad, ihr Name ist Schnöggersburg, ihr Vater – Peter Makowski.

Der „letzte Schliff“

Makowski stellt mit seinen gut 700 Soldaten, die im Gefechtsübungszentrum (GÜZ) mit angeschlossenem Truppenübungsplatz in Letzlingen fest stationiert sind, heute schon die Feinde. Die Colbitz-Letzlinger Heide, 23.000 Hektar im Norden von Sachsen-Anhalt, ist zum Sandkasten geworden. Seit 2006 erhalten alle Verbände, die nach Afghanistan gehen, im GÜZ ihren „letzten Schliff“, wie man hier gern formuliert. Die Schüsse werden mit Laser simuliert, es gibt kleinere Siedlungen für den Häuserkampf. Was noch fehlte, war eine richtige große Stadt.

Geschichte: Die Colbitz-Letzlinger Heide wird seit 1936 militärisch genutzt. Die Wehrmacht räumte mehrere Dörfer, darunter Schnöggersburg, und testete Artilleriewaffen. 1945 übernahm die Sowjetarmee das Gelände und übte mit bis zu 20.000 Soldaten. 1994 übernahm die Bundeswehr den Truppenübungsplatz.

Schnöggersburg: Ab 1997 baute die Bundeswehr das Areal zum Gefechtsübungszentum Heer (GÜZ) aus, um Kampfeinsätze zu simulieren. 2012 begannen die Arbeiten für den „urbanen Ballungsraum Schnöggersburg“. Auf 2,5 mal 2,5 km entstehen für geplant 100 Millionen Euro 500 Gebäude samt Infrastruktur. Ab 2020 sollen bis zu 1.500 Soldaten gleichzeitig üben.

Proteste: Bis zum 29. Juli fand in der Nähe des GÜZ ein Diskussions- und Aktionscamp der antimilitaristischen Bewegung statt.

warstartsherecamp.org

www.offeneheide.de

Die Soldaten-Schauspieler mimen gegnerische Truppe, friedliebende Zivilisten, Taliban oder was es sonst an Gegenüber für die Bundeswehr geben könnte. Ein Kampftag in Schnöggersburg könnte so beginnen: In der Altstadt hocken Zivilisten, vom Achtgeschosser feuern Aufständische, die Chemiefabrik meldet eine Havarie, im Slum bricht eine Hungerrevolte los, auf dem Flugplatz landet eine Transall, doch Sprengfallen an der Stadtautobahn stoppen den Vormarsch der Bundeswehr. Kurzum – die Kacke wäre so richtig am Dampfen. „Die Kommandeure können so agieren wie im Einsatz selbst“, lobt Peter Makowski.

Und Einsätze wird es viele geben, daran lässt Makowski kaum Zweifel. Zerfallende Staaten, Terrorismus und Flüchtlingsströme könnten Konflikte heraufbeschwören, die jederzeit „ein schnelles Handeln auch über große Distanzen erforderlich machen“. So beschwören es die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ von 2011. Hinzu kommen der Schutz der Handelswege und die Sicherung der Rohstoffversorgung – und eben „urbane Ballungsräume“, mit denen es die Militärs zu tun bekommen. Bis 2030 leben 60 Prozent der Menschen in Städten, rechnet Makowski noch einmal vor – wahre Pulverfässer.

Welches Szenario wird hier gespielt?

Der Umgang mit solchen Krisenherden soll also trainiert werden – ab 2017 in Schnöggersburg. Makowski, der beim Reden immer etwas zu tänzeln scheint, hat da eine feste Vorstellung: „Ich sage immer, die ersten Kräfte kommen in die Stadt und werden noch von Einzelnen angegriffen. Sie müssen kämpfen, aber ganz vorsichtig. Die mittleren Kräfte regeln schon den Verkehr und die hinteren verteilen Bonbons.“ Fehlt nur noch das Lagerfeuer.

Der Erfinder von Schnöggersdorf: Oberstleutnant Peter Makowski. Bild: Thomas Gerlach

Im Kosovo sind noch etwa 800 deutsche Soldaten. Die 4.450 Bundeswehrsoldaten, die derzeit in Afghanistan stationiert sind, sollen bis 2014 größtenteils abgezogen werden. Wohin gehen die Soldaten dann? Welches Szenario wird Makowski hier dann vorbereiten? Syrien? Sudan? Mali? Makowski hebt beschwörend die Hände, als würden Flaschengeister lebendig. Die Bundeswehr sei nur der Dienstleister.

Die Aufträge erteile einzig der Bundestag. Ein Wegehobel rollt lärmend heran, Makowski geht zur Seite. Die Tiefbauarbeiten für Schnöggersburg sollen 2017 beendet sein. Danach wächst die Stadt in den Himmel, wo gerade Kraniche kreisen. Bald könnten es Drohnen sein.

Russische Delegation

Natürlich können hier Drohnen fliegen, bestätigt Makowski, Aufklärungsdrohnen mit 3,40 Meter Spannweite von Rheinmetall. Für den Rüstungskonzern Rheinmetall ist das GÜZ eine große Verkaufsausstellung. Mancher Verteidigungsminister wurde hier schon gesichtet. Fast eine Heimkehr war es 2011 für die russische Delegation unter dem damaligen Verteidigungsminister Serdjukow. Der Generalstabschef fuhr eine Runde mit dem Leopard 2. Bald darauf unterzeichnete Rheinmetall einen Vertrag über den Aufbau eines russischen Trainingszentrums in Mulino an der Wolga – Auftragsvolumen: über 100 Millionen Euro.

Mulino dürfte eine Kopie des GÜZ werden mit einem russischen Schnöggersburg als Hauptstadt. Wer hätte das in der Altmark gedacht? Der geradezu altdeutsch klingende Name des Dorfes Schnöggersburg, das 1936 von der Wehrmacht geschleift wurde, um einen Truppenübungsplatz zu schaffen, könnte Markenzeichen werden. Doch könnte Schnöggersburg nicht auch Hamburg darstellen? Oder Magdeburg? Für einen Moment vergisst Peter Makowski seine gute Laune, und der Ton wird schneidig. „Wenn man uns unterstellt, dass wir solche Dinge planen, fühle ich mich in der Ehre gekränkt.“ Er verweist auf das Grundgesetz, das die Aufgaben der Bundeswehr eingrenzt, und donnert: „Wenn wir das planen, gehören wir alle ins Gefängnis!“

Eingreifender Pazifismus

Da gehörten sie auch hin, mitsamt den Bundestagsabgeordneten, die die deutsche Armee in die Welt hinausschicken. Das ist das Credo von Malte Fröhlich. Der Holzbildhauer aus dem Dorf Miltern ist ein echter Altmärker: vierschrötig, kräftige Unterarme, Stoppelschnitt, Latzhose und völlig friedfertig. Fröhlich bewohnt mit seiner Familie ein altes Bauernhaus. Der 46-Jährige baut Kinderspielplätze, Slogan „Fröhliche Spielgeräte“. Doch beim Thema Bundeswehr verschwindet die Gemütlichkeit.

Fröhlich war in der DDR-Armee „Bausoldat“, verweigerte also den Dienst an der Waffe, kämpfte gegen das Atomkraftwerk Stendal, das hier gebaut wurde, und reiste im Januar 1991 in den Irak, um den bevorstehenden Angriff auf Bagdad zu verhindern. „Tätiger und eingreifender Pazifismus“ nennt Fröhlich seine Maxime. Natürlich ist er Aktivist der Bürgerinitiative Offenen Heide, die seit 1993 für die friedliche Nutzung des Truppenübungsplatzes eintritt.

Im Februar 2012 ist Malte Fröhlich trotz Verbots auf den Truppenübungsplatz gefahren. Warum? Weil im GÜZ seit spätestens 1999 Angriffskriege vorbereitet werden, womit die Verantwortlichen gegen Paragraf 80 des Strafgesetzbuches verstoßen, „Vorbereitung eines Angriffskrieges“. Da Fröhlich weder die 35 Euro „Verwarngeld“ noch den „Bußgeldbescheid“ über 123,45 Euro akzeptierte, kam es im Juli 2012 im Amtsgericht Strausberg zur Verhandlung. Solange die Bundeswehr andere Länder überfällt, die weder Deutschland noch dessen Verbündete angegriffen haben, werde er dazu aufrufen, den Truppenübungsplatz zu betreten, bekräftigte Fröhlich vor Gericht.

Er sitzt mit verschränkten Armen am Küchentisch. Zwischen Miltern und Schnöggersburg liegen gut zehn Kilometer. Fröhlich schwärmt, die Altmark könnte eine Modellregion für ländliche Räume sein mit kleinen Strukturen, eigener Währung, autarken Lösungen. Und was wird seit Jahrzehnten geplant? „Geisteskranke Projekte: ein Atomkraftwerk, ein Truppenübungsplatz, eine Geisterstadt.“

Grüne für Vogelschutz

Der Anwohnerprotest gegen die Weiternutzung des Truppenübungsplatzes durch die Bundeswehr ist größtenteils zusammengebrochen. Die Anliegergemeinden sind eingeknickt, seitdem die Bundeswehr hier als großer Arbeitgeber auftritt. Bereits 2003 hat der Landtag mit CDU/FDP-Mehrheit auf die vertraglich zugesicherte zivile Nutzung des Südteils verzichtet. Einzig die Fraktion der Linkspartei trete geschlossen gegen Schnöggersburg auf, sagt Fröhlich. Und die Grünen? „Die Olivgrünen“, korrigiert Fröhlich, „die haben 1999 mit ihrem Ja zum Kosovokrieg die neue deutsche Kriegspolitik erst hoffähig gemacht“. Jetzt pocht die Landtagsfraktion von Bündnis 90/Grüne nur noch auf die Einhaltung des Vogelschutzes und hat daher im Januar Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt.

Fröhlich ist auf die Dorfstraße getreten. Seine halbwüchsige Tochter wird von einer Freundin abgeholt. Spatzen tschilpen, es riecht nach Kuh. Dorfleben. Doch Miltern ist längst nach Tangermünde eingemeindet. Dörfer werden zu Stadtrand degradiert und von der Politik aufgegeben. Mehr als sechzig Grundschulen sollen im Land geschlossen werden, weil angeblich das Geld fehlt, erregt sich Fröhlich. Die Altmark stirbt einen langsamen Tod. Der Landstrich entvölkert wie nach dem Dreißigjährigen Krieg. Und aus seinem Staub erhebt sich für 100 Millionen Euro die Zukunft – eine tote Stadt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.