Zukunft der türkischen Proteste: „Jeder Park ist Gezi“

Sie lehnt eine konservative Gesellschaft ab. Sie will Presse- und Meinungsfreiheit. In Istanbul diskutiert die Protestbewegung in Parks über die Zukunft.

Die Proteste im Gezi-Park waren nur der Anfang. Nach der Räumung diskutieren die Demonstranten in anderen Parks des Landes. Bild: dpa

ISTANBUL taz | In Besiktas am Bosporus führt eine Gasse den Hügel hoch zum Abbas-Aga-Park, einer grünen Oase inmitten des Häusermeers. In der Nacht zum 19. Juni hat sich hier erstmals eine große Menschenmenge aus ernstem Anlass getroffen: Nach massiven Polizeieinsätzen mit Toten, Verletzten und vielen Festnahmen geht es um die Zukunft der Türkei.

Ein Amphitheater im Park ist mit etwa 3.000 Menschen überfüllt. Das Durchschnittsalter liegt vielleicht bei 28, das entspricht dem Durchschnitt der Bevölkerung. Die Regie der Versammlung liegt in den Händen von Carsi, den Ultras des FC Besiktas. Fast zwanzig Carsi-Mitglieder sind nach den Großdemonstrationen um den Gezi-Park bei Hausrazzien verhaftet worden.

„Ich kann seitdem kein Auge mehr zumachen“, sagt ein junger Mann an dem provisorischen Mikrofon, das in der überfüllten Arena aufgebaut ist. „Ich muss das einfach loswerden. Ich will, dass wir alle in Freiheit leben, brüderlich, wir verdienen etwas Besseres.“ Um die Nachbarschaft nicht zu stören, ist lauter Applaus untersagt. Tausende Arme heben sich zur Unterstützung gen Himmel, alle winken. Sie sind da, weil sie es zu Hause nicht aushalten, weil sie ihr Leben verändern wollen, weil sie ihre Angst nur im Bad in der Menge besiegen können.

Tausende Menschen haben am Dienstag gegen die Freilassung eines türkischen Polizisten demonstriert, der bei heftigen Protesten in Ankara einen Demonstranten erschossen haben soll. In Istanbul zogen die Menschen am Abend zum Taksim-Platz, wo die Polizei weiter starke Präsenz zeigte, wie Augenzeugen berichteten. Demonstrationen gab es auch in mehreren anderen Städten.

Der wegen eines tödlichen Schusses beschuldigte türkische Beamte war am Vortag aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Das Gericht habe entschieden, dass der Polizist nach dem Stand der Ermittlungen in Notwehr gefeuert habe, berichteten türkische Medien. Er wurde deswegen bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt.

Die tödliche Verletzungen des Demonstranten Ethem Sarisülük sind auf einem Video dokumentiert. Die Videoaufnahme zeigt, wie ein Polizist in Ankara auf einen am Boden liegenden Demonstranten eintritt und dann in ein Handgemenge mit Steine werfenden Demonstranten zu geraten droht. Er feuert aus seiner Waffe und rennt dann mit aufgesetztem Helm und dem Gürtel hängenden Gummiknüppel weg.

Dem Demonstranten war in den Kopf geschossen worden. Er lag mehrere Tage in einem Krankenhaus und wurde dann für hirntot erklärt. Die Polizeiführung hatte die Identität des mutmaßlichen Schützen zunächst nicht preisgeben wollen. Die Demonstranten hätten ihn attackiert, zitierte die Zeitung Hürriyet den Polizisten. „Sie nahmen meinen Helm und meinen Knüppel. Sie griffen mich an und traten mich. Ich hatte Angst, dass sie mich lynchen. Um mich zu schützen, feuerte ich in die Luft“, habe er erklärt. (dpa)

Die Istanbuler Foren finden an überraschend vielen Plätzen statt. Vom tiefkonservativen Eyüp am Goldenen Horn über Fatih, Cihangir, Kadiköy und Beykoz bis hin zu den Prinzeninseln versammeln sich jede Nacht Zehntausende, um darüber zu reden, „wie es weitergehen soll“. Auch in Ankara, Bursa, Izmir, Antalya finden Foren statt. Auf jedem Forum werden die Ergebnisse protokolliert und mit Fotos ins Internet gestellt. So kann jedes Forum am nächsten Tag genau erfahren, was auf anderen Versammlungen besprochen wurde. Meistens führt ein kleines Komitee von drei bis fünf jungen Leuten das Forum. Jeder hat zwei Minuten Redezeit.

Themen: Homosexualität und Laizismus

Anfangs sprachen die Menschen, um sich kennenzulernen. „Ich bin Student“, sagte Ali ins Mikrophon, „ich finde, wir haben den Homosexuellen in diesem Land das Leben lange schwer gemacht. Nächste Woche soll eine Gay Pride Parade stattfinden, wir sollten alle hingehen.“ Die Anwesenden heben ihre Hände, denn die jungen Leute hier waren fast alle auch im Gezi-Park, bevor er geräumt wurde. Dort waren die Schwulen und Lesben aktiv mit dabei.

Ein anderer Sprecher spicht von seinen Ansichten über den Laizismus. „Ich habe nichts gegen verhüllte Frauen, es gab solche auch im Gezi-Park“, sagt er, „ich trete für die Freiheit des Kopftuches ein, bin aber selbst gegen die Verhüllung von Frauen. Ich glaube an die laizistischen Prinzipien Atatürks.“ Eine junge Frau widerspricht: „Wir können nicht Atatürk zum gemeinsamen Nenner unserer Bewegung machen“, sagt sie, „ich bin Kurdin und habe ein Problem damit.“

Noch vor wenigen Wochen wäre ein solcher Dialog nicht unmöglich, aber doch schwer weiterzuführen gewesen. Jetzt, wo alle an einem Strang ziehen wollen, werden unterschiedliche Meinungen respektiert. Als dann aus Yeniköy weiter im Norden des Bosporus die Nachricht kommt, dass ein Parkforum von Reaktionären angegriffen worden sei, werden sich am nächsten Abend Hunderte finden, um dort Präsenz zu zeigen. Es geht dabei auch um Stadtteilprobleme: Korruption im boomenden Bausektor ist ein Hauptthema.

„Keine Partei spricht uns an“

Im März 2014 sind in der Türkei Kommunalwahlen. Seit Erdogan 1994 in Istanbul selbst zum Oberbürgermeister gewählt wurde, regiert die AKP die meisten türkischen Kommunen. Es kristallisiert sich in den Foren bereits jetzt eine Idee heraus: Die Bürgerbewegung will vor Ort immer den stärksten Gegenkandidaten der AKP unterstützen.

„Keine der bestehenden politischen Parteien spricht uns an“, sagt eine Teilnehmerin auf dem Forum in Kadiköy, „auch die sozialdemokratische CHP nicht. Sie muss sich gründlich reformieren, um uns aufnehmen zu können.“ Es herrscht keine Antiparteienstimmung auf den Foren. Die Idee, als eine eigenständige Bewegung immer einen bestimmten Kandidaten zu unterstützen, finden viele gut. „Unsere Bewegung muss in die Politik einfließen“, sagt eine Frau, „ohne politisch aktiv zu werden, haben wir keine Chance.“

Was will man also? Es ist, als ob das jeder wüsste: Sie sind gegen die Übermacht des Ministerpräsidenten und seiner Partei. Sie lehnen einen konservativen Umbau der Gesellschaft ab. Sie wollen eine freie Presse und Meinungsfreiheit. Sie wollen Demokratie. Gleichheit. Sowohl auf den Demonstrationen als auch in den Foren stellen die Frauen die Mehrheit. Auch wenn die Zahl der Teilnehmer in den nächsten Wochen und Monaten variieren könnte, sind die Parks zum Fokus „des Widerstands“ geworden. „Sie haben uns aus dem Gezi-Park herausgeworfen“, sagt ein junger Mann, „aber jetzt ist jeder Park zum Gezi geworden.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.