Zur Buchmesse in Frankfurt: Die Macht des Lesens

Ist Lesen nun der Königsweg der Emanzipation oder der Unterwerfung? Der Text, ob auf Papier oder Bildschirmen, hat seine eigene Kraft.

Auf dem Königsweg der Individuation? Lesender Junge. Bild: dpa

Wer liest, wer seit der Kindheit Bücher liest, findet in seinem Gedächtnis leicht die einschlägigen Szenen. Wie das Kind angestrengt und verwirrt aus der Schule kommt, unter geringem Redeaufwand oder gar stumm an der Familienmahlzeit teilnimmt, sich das Buch greift, das ihm gerade als Heimat dient, und für die nächste Zeit darin verschwindet.

Mutter sah das nicht gern. Mutter sah es nicht gern, obwohl sie selber das Kind mit den Büchern und dem Lesen angefixt hatte. Mutter versuchte sich die Aufmerksamkeit des Kindes zurückzuerobern, indem sie ihm irgendeinen Snack hinstellte, ein Glas Milch mit einem Butterbrot beispielsweise oder ein Stück Streuselkuchen – Süßigkeiten zählen von Anfang an zu Mutters stärksten Machtmitteln –, im Grunde gewinnt sie ihre Herrschaft erst mit dem Abendessen zurück, der letzten Familienmahlzeit des Tages. Solche Mahlzeiten sind es, wie der französische Meistersoziologe Jean-Claude Kaufmann demonstriert hat, mittels deren die Familie seit dem 19. Jahrhundert ihre Mitglieder im Alltag beherrscht.

Das Lesen befreit das Kind temporär von den Familienbanden – wer diese Art von Emanzipation heutzutage mit anderen Geräten (neben den Büchern) betreibt, ändert an der Grundformel nichts.

Neue Medien – alte Sorgen

Das erkennt man besonders deutlich an ihren Kritikern, an Pädagogen und anderen Lehrpersonen. Seit das Lesen von schönen Büchern im 18. Jahrhundert massenhaft wurde, sagen sie immer wieder ungefähr dasselbe – bis hin zu Manfred Spitzer heute, der die Zersetzung und Unterjochung des Geistes durch Computer und Internet als Hirnforscher erkannt zu haben meint.

Jedes neue Medium weckt – wie öfter beschrieben wurde – bei pädagogisch inspirierten Kadern ungefähr dieselben Befürchtungen. Als der Walkman, dem monologischen Buch ja nicht unähnlich, aufkam, kannte ich einen soziologischen Kulturkritiker, der ihn obsessiv als Zerstörung des kommunikativen Handelns zu schmähen wusste.

Man hat das Lesen von Büchern als „Königsweg der Individuation“ bezeichnet. An dem lesenden Kind im Familienverband ist das gut zu studieren: Die Freiheit, die das Versinken ins Buch schenkt, ist eine durch und durch persönliche, sie gehört nur dem Leser selber. Sie hilft Ego eine Innenwelt aufzubauen, zu der Alter nicht so ohne weiteres Zugang hat – wenn Ego ihn nicht gewährt.

Klar, dieser Königsweg der Individuation ist ein bürgerlicher; er entwickelt sich mit der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. In unseren Kreisen wurde lange darüber fantasiert, dass der nächste Schritt unbedingt ein kollektiver zu sein habe. Man muss aber bedenken, dass zur Vorgeschichte der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert die Arbeiterbildungsvereine gehörten, die das Lesen des Proletariats, überhaupt seinen Kulturkonsum kräftig förderten; dass die DDR ein „Leseland“ gewesen sei, gehört hierher.

Ideen in den siebziger Jahren, die sich von Walter Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ herleiteten und das Kino als Kollektiverfahrung gegen das individualisierte Lesen auszuspielen versuchten, führen in die Irre. Allenfalls findet man heute irgendwo versprengte Kulturkritiker, die das individualisierte Anschauen von DVDs (buchähnlich wie der Walkman) als Verfall der kollektiven Kinoerfahrung denunzieren.

Luthers größte Leistung

Das individualisierende Lesen von schöner Literatur, dem sich der Bürger, vor allem die Bürgerin ab dem 18. Jahrhundert mit solcher Intensität widmeten, hat eine interessante Vorgeschichte in der Religion.

Es war ja der Protestantismus, der das Lesen des einzigen, des heiligen Buches, der Bibel, ins Zentrum der Frömmigkeit rückte. Als Luthers folgenreichste Leistung gilt die deutsche Übersetzung der Bibel, die ihre Lektüre demokratisierte. Plötzlich durfte jeder Fromme, sofern er zu lesen verstand, seine höchstpersönliche Version dessen, was in dem heiligen Buch zu lesen sei, herstellen. Das legte sich im protestantischen Sektenwesen aus, dem gegenüber die Einheit der Una Sancta Ecclesia als deren höchstes Ideal sich erhob, aber es lehrte eben auch, mit hermeneutischer Kontingenz zu leben: Was steht da geschrieben? Die einen sagen so, die anderen sagen so.

Das emanzipierte vom Klerus als der Körperschaft, die mit Autorität festlegt, was zu lesen sei, welcher Sinn als der einzig wahre zu gelten habe. Wie der Protestantismus zur Entwicklung der Demokratie beitrug, kann kaum überschätzt werden. Eine dieser Sekten, die Quäker, verzichtete überhaupt auf die Priesterfunktion, was, wie es heißt, Philadelphia, von den Quäkern gegründet, zur demokratischsten Stadt der Welt machte. Jeden kann die Wahrheit erfüllen; jedem muss man so zuhören, als ob er sie ausspräche.

Aber was hier interessiert, das ist eben die ungeheure Aufwertung des Buches und seiner individuellen Lektüre im Zug der protestantischen Revolution. Der Buchdruck, der die massenhafte Produktion des Lesestoffs ermöglichte, und die Alphabetisierung taten ein Übriges. Bücher bringen Freiheit. Tief eingeprägt hat sich mir die Geschichte von den Bauern im Salzburger Land, die ihre Bücher in den Scheunen versteckten, unter dem Heu, damit die Inquisition ihnen nicht auf die Spur komme. Wer Bücher besitzt, macht sich als Dissident verdächtig; der Besitz von Büchern zeigt Freiheitsdurst an.

Es gibt aber eine ganz andere Version dieser Geschichte. Sie handelt von Unfreiheit, von Unterwerfung unter das Buch, von Dogmatismus, Orthodoxie. Die Bibel als das einzig wahre Buch bleibt das Role Model. Es gibt heilige Schriften, und die fordern Auslegung und Folgsamkeit.

Textgläubige Sekten

Achtundsechziger können sich daran erinnern, wie zum Zerfall der Revolte die sogenannten K-Gruppen beitrugen, marxistische Sekten, die sich, wie es zum Sektenwesen gehört, einerseits durch extreme Textgläubigkeit auszeichneten, anderseits durch minimale Abweichungen in der Interpretation, die aber riesige Wut- und Abgrenzungspotenziale gegeneinander freisetzten.

Die heiligen Texte – Marx, Lenin, Mao, auch Stalin – sagten genau, was in der Wirklichkeit vorging, was in der Wirklichkeit voranzubringen sei. Die proletarische Revolution organisieren, die den Kapitalismus beseitigt und den Kommunismus initiiert.

So stand es geschrieben. Was man aktuell erlebte, was man in der Zeitung las und im Fernsehen sah, war darauf durch korrekte Hermeneutik zu beziehen. Was die Organisation der proletarischen Revolution in der Wirklichkeit behinderte, es war durch Verfeinerung der Hermeneutik, durch gründlichere Vertiefung in die heiligen Texte zu erklären. Alles stand doch da – bloß haben wir es womöglich noch nicht richtig verstanden. Also weiterlesen, gründlicher lesen.

Hauptsache Recht haben

Auch die Lesezirkel, die sich damals jahrelang mit Marx beschäftigten, um den tendenziellen Fall der Profitrate und damit die Verelendung des Proletariats – objektive Voraussetzungen der Revolution – doch noch zu erweisen, auch sie folgten dieser Orthodoxie, nur von Erkenntnisinteresse und von keinem praktischen Impuls geleitet. Recht haben über den Weltlauf genügte vollständig. Die Wahrheit steht in dem heiligen Buch; es kommt nur darauf an, das Buch richtig zu lesen. Wenn das misslingt, wenn die Wirklichkeit sich anders – wenn überhaupt – bewegt, haben wir noch nicht richtig gelesen. Es liegt an uns.

Das ist keine triviale Verirrung. Jürgen Habermas hat schon 1965 formuliert, dass Horkheimer und Adorno, die Frankfurter Schule im Hinblick auf Marx einer „verschwiegenen Orthodoxie“ anhänge. Alle Analysen (Prophezeiungen) von Marx treffen zu. Es kommt jetzt darauf an zu erklären, wie ihr Eintreten verhindert wurde. Durch die Kulturindustrie, die autoritäre Persönlichkeit, den Etatismus, all that jazz. Noch heute stößt man hier und da auf ältere Damen und Herren, versprengte Kader, denen diese verschwiegene Orthodoxie ein wissendes Lächeln schenkt, wenn sie auf die aktuelle Krise – und es findet sich ja immer eine – zu sprechen kommen.

Kulturwissenschaftler haben diese Art von Orthodoxie, die sich ja auch auf ganz anderen Feldern findet, als „Literalismus“ beschrieben. Das Buch ist wortwörtlich wahr – bloß lesen wir es noch unvollkommen. Die Apokalypse des Johannes, der Maya-Kalender, Rudolf Steiner, Oswald Spengler. Das Buch befreit nicht, sondern unterwirft.

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