Zwei Jahre nach Feminizid in Kasachstan: Saltanats Vermächtnis
Vor zwei Jahren wurde Saltanat Nukenova vom kasachischen Ex-Wirtschaftsminister brutal ermordet. Wie steht es heute um Schutz vor häuslicher Gewalt?
In einem Bistro in Kasachstans Hauptstadt Astana bestelle Aitbek Amangeldy an seinem Geburtstag zwei Gläser Wein. „Eins für mich und eins für Salta“, erklärt er. Hierhin seien die Geschwister oft gemeinsam gekommen.
Aber Saltanat Nukenova, seine jüngere Schwester, kann nicht dabei sein. Denn am 9. November 2023 wurde die damals 31-Jährige von ihrem Ehemann, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Quandyq Bischimbajew, umgebracht. Die brutale Tat geschah im VIP-Raum eines Restaurants der Hauptstadt und wurde teilweise von Überwachungskameras aufgezeichnet.
Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Mann Saltanat schlägt, tritt und an ihren Haaren zerrt. Während des Prozesses wurde bekannt, dass Bischimbajew kurz vor der Tat mit einem Hellseher telefoniert hatte. Ein Krankenwagen wurde erst viele Stunden später gerufen. Als er eintraf, war Saltanat bereits tot.
Der Gerichtsprozess gegen Bischimbajew war der erste im Land, der gestreamt und nicht nur in Kasachstan, sondern auch in anderen russischsprachigen Länder verfolgt wurde. Das Gericht verhandelte auf Russisch. „Einige Leute meinten, es wäre, wie eine Serie zu schauen“, kommentiert Saltanats Bruder den Prozess. Bischimbajew wurde der Folter und des Mordes mit besonderer Grausamkeit für schuldig befunden und schließlich zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Fall schockierte Kasachstan, doch er ist kein Einzelfall. Nach Angaben des Innenministeriums gingen in Saltanats Todesjahr bei der Polizei mehr als 99.000 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt ein. Am 9. November 2025 jährt sich der Mord zum zweiten Mal. Wie viel hat sich in Kasachstan in dieser Zeit verändert?
„Saltanat-Gesetz“ verabschiedet
Am 15. April 2024 unterzeichnete der kasachische Präsident eine Reihe von Änderungen des Gesetzes zur Kriminalisierung häuslicher Gewalt. Nun waren auch leichte Körperverletzungen strafbar, die 2017 entkriminalisiert worden waren. Doch obwohl die Novelle als „Saltanat-Gesetz“ bekannt ist, ging es bei vielen der angenommenen Änderungen um den Schutz von Kindern. Sie sehen beispielsweise lebenslange Haftstrafen für Pädophilie vor. Ziel des neuen Gesetzes ist es zudem, die Überlebenden zu entlasten: So ist es nun Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden und nicht eines Opfers, Beweise zu sammeln.
Das zentralasiatische Kasachstan ist mit einer Fläche von 2,7 Millionen Quadratkilometern rund siebenmal so groß wie Deutschland, hat aber nur rund 20 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt ist seit 1997 Astana. Kasachisch ist die Amtssprache, doch im Norden und in den Großstädten der ehemaligen Sowjetrepublik wird immer noch überwiegend Russisch gesprochen.
Bis 2017 galt häusliche Gewalt in Kasachstan als Straftat. Dann wurde die strafrechtliche Verantwortung abgeschafft, und die zu erwartende Verwaltungsstrafe für Körperverletzung fiel plötzlich geringer aus als zum Beispiel für Tierquälerei. Damit sollte signalisiert werden, dass häusliche Gewalt Privatsache sei.
Am 9. November 2023 wurde die 31-jährige Saltanat Nukenova von ihrem Ehemann, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Quandyq Bischimbajew, in einem Restaurant in Astana ermordet. Überwachungskameras zeigen, wie der Mann Saltanat schlägt, tritt und an den Haaren zerrt. Ein Krankenwagen wurde erst viele Stunden später gerufen. Als die Hilfe eintraf, war Saltanat bereits tot.
Am 15. April 2024 unterzeichnete der kasachische Präsident Qassym-Schomart Tokajew ein Gesetz zur Kriminalisierung häuslicher Gewalt, das nach diesem Fall „Saltanat-Gesetz“ genannt wurde, das vielen allerdings längst nicht weit genug geht. Ex-Wirtschaftsminister Bischimbajew wurde im gleichen Monat zu 24 Jahren Haft verurteilt.
Die Einführung des Gesetzes wurde zwar weitgehend begrüßt. Doch kritisierte zum Beispiel Human Rights Watch, dass das neue Gesetz häusliche Gewalt nicht als eigenständiges Verbrechen kriminalisiere. Das Gesetz betone auch die „Stärkung der Institution von Ehe und Familie“, was den Ernst der Lage herunterspielen könnte.
Vor dem Ex-Partner geflohen
Schymkent im Süden Kasachstans. Mitte 2024 ist in einem örtlichen Krisenzentrum die 32-jährige Lana Alieva mit ihrer zweijährigen Tochter Elmira und ihrem vier Monaten alten Sohn Alan angekommen. 70 Plätze bietet das Heim, 50 davon für Opfer häuslicher Gewalt. In einem Büro des Zufluchtshauses erzählt die junge Frau ihre Geschichte.
Alieva, die wie ihre Kinder eigentlich anders heißt, hatte mehrere Jahre mit einem Mann gelebt, der sie irgendwann überredet habe, nicht mehr zu arbeiten. Er würde sich um die Finanzen kümmern. Das tat er jedoch nicht. Als ihr das Geld ausging, trennte sich Alieva und zog zu ihrer Mutter. Dort stellte sie fest, dass sie wieder schwanger war.
Von da an, berichtet sie, habe ihr Ex-Partner jeden Tag auf der Bank vor dem Haus ihrer Mutter gesessen. „Ich hatte schon Angst, aus dem Fenster zu schauen und meinen Ex auf der Bank zu sehen“, erzählt sie. Deshalb habe sie beschlossen, Hilfe im Krisenzentrum zu suchen. Am Tag vor dem Umzug sei es ihrem Ex gelungen, sich ihr zu nähern. In einem Streit habe er ihr Handy zerstört.
Vom „Saltanat-Gesetz“ hält sie wenig. „Solange es in unserem Land Korruption gibt, wird kein Gesetz funktionieren“, meint sie. Und außerdem erkenne die Novelle viele Formen der Gewalt immer noch nicht an. Weder Stalking noch wirtschaftliche Gewalt, wie Alieva sie erlebt hat, könnten verfolgt werden. Auch Vergewaltigung in der Ehe bleibt straffrei.
Sechs Monate in der Zuflucht, was dann?
Bis zu sechs Monate können die Frauen im Krisenzentrum bleiben. Alieva weiß nicht, wohin sie danach gehen wird. Sie hofft, Schymkent verlassen zu können. „Hier im Süden gibt es noch diese Mentalität“, erklärt Alieva, „dass es egal ist, was der Partner macht. Was soll’s? Lebe einfach weiter, das ist doch nichts Schlimmes, wir haben auch so gelebt.“ Nur in einer anderen Gegend könne sie ihr Leben wieder in Ordnung bringen, glaubt Alieva. Ob sie es geschafft hat, ist unbekannt, der Kontakt zu Alieva ist abgebrochen.
Doch seit einer Gesetzesnovelle im Juli 2025 ist Stalking in Kasachstan strafbar. Und noch eine Veränderung gibt es seitdem. Nach dem Saltanat-Gesetz wurden neue staatliche Familienunterstützungszentren eröffnet. „Dort können Menschen, die noch keine Opfer sind, aber befürchten, es zu werden, Hilfe und Schutz erhalten“, erklärt die Abgeordnete Zhanna Asanova. 2024 gab es Kasachstan noch 69 Krisenhilfezentren, von denen 22 über eigene Notunterkünfte verfügten. 2025 sind es 74 Zentren, 61 bieten Unterkünfte für Frauen und Kinder an.
„Erfreulich ist, dass unsere Regierung im Moment ein offenes Ohr für die Probleme hat, mit denen wir als Frauenhilfsorganisationen konfrontiert sind“, sagt Shakhnoza Khassanova, Direktorin der NGO Sana Sezim.
Unter Klientinnen von Sana Sezim sind auch Migrantinnen und nicht dokumentierte Personen. „Oft wissen sie nicht, welche Rechte sie haben, und manchmal wissen es nicht einmal die Beamten“, so Khassanova. Deshalb kümmert sich ihre Organisation nicht nur um Nothilfe für Betroffene häuslicher Gewalt, sondern organisiert auch Fortbildungen für lokale Behörden.
Kampf gegen Belästigung an der Uni
Adiya, Studentin der Politikwissenschaft an einer Uni in Astana und Vorsitzende des dortigen „Equality Clubs“, stimmt zu. „Kasachische Frauen werden nicht nur in der Familie unterdrückt, sondern auch durch das System“, erklärt die 22-Jährige, die nur ihren Vornamen in der Zeitung lesen will. Ihr Club kämpft unter anderem gegen Belästigung durch Männer. Erfahrungen damit hat Adiya selbst gemacht – aber die Universität blieb tatenlos, mit der Begründung, dass der Mann offiziell nicht mehr Teil der Studentenschaft war. „Die Verwaltung will den Status quo nicht ändern, sondern nutzt alle Instrumente, die sie hat, damit alles so bleibt, wie es ist“, sagt sie.
Aus Adiyas Sicht war die Ermordung Saltanats für viele ein Wendepunkt. „Meine Eltern wussten, dass ich mich in feministischen Initiativen engagierte. Aber sie verstanden nicht ganz, was das bedeutete, denn Feminismus wird hier oft als Männerhass verstanden“, sagt sie. „Nach Saltanats Tod begann meine Mutter, sich mit Gewalt und Ungleichheit zu beschäftigen. Sie diskutierte auch Missstände in ihrer eigenen Ehe mit meinem Vater, um sie zu ändern.“ Adiya zufolge kamen die Gesetzesänderungen aber nicht nur aufgrund des gesellschaftlichen Drucks zustande, sondern vor allem auch, weil Kasachstan nach dem Mord an Saltanat von der Welt beobachtet wurde.
„In Kasachstan ist es sehr wichtig, was andere von einem denken. Wir nennen das ‚uyat‘ (‚Scham‘). Das ist eine Art ‚Wahrheit‘, die zwar nirgendwo niedergeschrieben ist, aber die Gesellschaft sehr einschränkt“, erklärt Aitbek Amangeldy, Saltanats Bruder. Nach Saltanats Tod baute er ein Netzwerk von Freiwilligen auf, darunter Anwälte und Psychologen. Die Saltanat Foundation hat bereits mehr als 2.500 Gewaltopfer unterstützt. „Ich möchte, dass die Justiz in unserem Land für alle zugänglich ist“, sagt Amangeldy.
Im Juni 2025 postete Amangeldy auf seinem Instagram-Feed, was das neue Saltanat-Gesetz ein Jahr nach seiner Einführung verändert hat: Die Berichte über häusliche Gewalt, die Fälle von schwerer Körperverletzung und sexuelle Übergriffe gegenüber Minderjährigen sind zurückgegangen. „Kasachstan ist zu einem sichereren Ort für Frauen und Kinder geworden“, schrieb er.
NGOs sehen diesen scheinbaren Erfolg skeptisch. Der Grund dafür ist ein kompliziertes Fördersystem für NGOs. Nur wer bis 2024 eine staatliche Lizenz bekommen hat, bekommt Geld. Alle anderen gehen nun leer aus. Die Mitarbeiter solcher Organisationen erhalten seit Monaten keine Gehälter mehr. „Das Jahr 2025 war geprägt von einer gravierenden Verschlechterung“, sagt die Direktorin einer Organisation, die anonym bleiben möchte.
„Der Großteil der Betroffenen hat keinen Zugang zu einem wirksamen staatlichen Unterstützungssystem, und bleibt jetzt auch ohne Zugang zu den Dienstleistungen nicht staatlicher Organisationen, von denen viele seit über 20 Jahren qualifizierte Hilfe für Opfer von Gewalt geleistet haben.“ Die Statistiken, auf die auch die kasachische Regierung so stolz ist, würden die Realität nicht abbilden. „Wenn es um den Schutz der Rechte von Frauen und Kindern geht, besonders derer, die Opfer von Gewalt geworden sind, kann man in Kasachstan über eine Systemkrise reden.“
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