die wahrheit: Cui bono, Chemnitz?

Vom einstigen DDR-Gulag zur Hauptstadt des Grauens.

Ein verstrahlter Meteorklumpen als einziges Wahrzeichen einer ansonsten vollkommen wahrzeichenlosen Stadt: der Nischel. Bild: dpa

Die Welt wird langsam blass und immer grauer, Chemnitz kann nicht mehr weit sein. Eine Stadt mit einer Aura, wie sie nur wenige Orte auf der Welt ausstrahlen - Tschernobyl vielleicht, manche Teile Nordkoreas oder Stalingrad im Winter 43. Chemnitz hat von allem etwas. Abseits der Plattenautobahn erwarten den Besucher verwilderte Alleen, an deren Rändern sich kleine Kreuzchen und Bäumchen stetig abwechseln: eine Birke, der Ronny, eine Pappel, der Enrico, ein Ahorn, die Jenny, eine Buche, der Jens … - bis kurz vor die Betonmauern der Stadt geht das so. Ob etwa massenhafter Selbstmord oder Selbstüberschätzung zu diesem Kreuzchenboom führte?

So oder so, Chemnitz hat in den vergangenen Jahrzehnten schleichend an Bevölkerung verloren und fährt nun sogar eine Kampagne, um die Resteinwohner in der Stadt zu halten und vom fatalen "Pendeln" auf den lebensgefährlichen Straßen abzubringen.

"Mal ehrlich: Eine familienfreundliche Stadt, nicht zu hektisch, nicht zu klein, nicht versnobt, mit glänzenden beruflichen Perspektiven und angenehm unauffälligen Lebenshaltungskosten - das klingt doch nach einem prima Zuhause. Und ist Pendeln nicht das Gegenteil von zu Hause?" So steht es auf den Postkarten, die man im Rahmen der Kampagne "Chemnitz zieht an" überall im Land verteilt, auch um neue Einwohner respektive Verkehrstote in das verwaiste Erzgebirgsbecken zu locken.

Übersetzt bedeutet der wohlwollend formulierte Werbetext: "Eine Stadt, in der Hartz-IV-Empfänger munter drauflos rammeln, die aber trotzdem verschnarcht geblieben ist und in weiten Teilen verlassen wurde. Eine örtliche Reinigungs- und Call-Center-Branche hält dutzende Aufstockerjobs bereit und viele leerstehende, billige Plattenbauwohnungen gibt es auch." Und selbst das ist noch ein Euphemismus.

Vielmehr ist Chemnitz seit Langem als das "Celle des Ostens" oder auch als "Minsk des Westens" bekannt, je nachdem aus welcher Richtung man kommt. Manche nennen die Marx-Metropole gar die "Schöne unter den Blinden" oder die "Holde der Unholde". Doch einige nennen die Zustände auch beim Namen: "Jenseits der Bausubstanz" und "Heimat des Grauen" hört man Einzelne sagen.

Und dieses Chemnitz zieht an? Wenn es etwas anzieht, dann Depression und graue Wolken, Beton und Schwermetall. Wie beschrieb es einst der in Chemnitz geborene Dichter Hermann K. Tschunke? "In Chemnitz zu leben ist, wie einer Pflaume beim Schimmeln zuzusehen." Und wahrlich, schon zu DDR-Zeiten hatten die Chemnitzer respektive Karl-Marx-Städter ein schweres Los. Die Region galt als "No-go-Area" oder besser gesagt als "Bleibste weg, hioorr!"-Area. Jeder in der Zone wusste, wenn er erst einmal in Chemnitz landete, wäre es um ihn geschehen. Inoffiziell war Karl-Marx-Stadt eine Art Gulag, in welchen man gern unliebsame Zeitgenossen verbannte.

Und dies kam nicht von ungefähr. Grausam, wie das DDR-Regime war, setzte es die Verstoßenen damit unkalkulierbaren Risiken aus. Besonders schlimm wurde es nach dem Jahre 1970. Im Oktober jenes Jahres schlug ein Meteor im Herzen der Stadt ein und verwüstete ausgerechnet die schönsten Fußgängertunnel und Straßenbahnhaltestellen der Stadt. Schlimmer noch, der Kern des Meteors enthielt außerirdisches Metall, das stark strahlte und dessen grünlicher Schimmer unangenehm in den Augen brannte. Schnell wurde klar, ein Transport wäre zu gefährlich und zu teuer. Also schmiedete man daraus bis 1971 ein Wahrzeichen für die damals bis auf ein paar Rauchschlote völlig wahrzeichenlose Stadt. Seitdem wird der unförmige Meteorklumpen liebevoll "Nischel" oder offiziell "Karl-Marx-Monument" genannt.

In Wahrheit war dies Teil einer beispiellosen Vertuschungsaktion, bei der über die Jahre 12.000 Chemnitzer schwere Verbrennungen und Netzhautschäden erlitten. Bis dato ist dieses Kapitel kaum aufgearbeitet. An den Einschlag des Meteors erinnert heute nur noch ein flacher Krater im Stadtzentrum, der malerisch zwischen Automatenspielhölle, Schnäppchenexpress und Getränkemarkt liegt. Zur Tarnung wurde er fast komplett mit Verpackungsresten und Altglas zugeschüttet.

In den Siebziger und Achtziger Jahren ging es weiter bergab mit den Karl-Marx-Städtern. Sie wurden Teil eines groß angelegten Versuchsaufbaus, bei dem die psychische Belastbarkeit der Bürger getestet wurde. Man transformierte die Stadt immer weiter in ein klobiges Plattenbaulabyrinth, das nur zwei Extreme kannte: kackbraun und aschgrau. Man mauerte die Bewohner regelrecht ein.

Und dann kam die Wende, von der man in Chemnitz allerdings erst 1995 erfuhr. Da war die anfängliche Euphorie bereits verflogen, und die Chemnitzer konnten unverändert weiter ihre Depressionen pflegen. Blühende Landschaften kannte man ohnehin nur aus Legenden. Und so dürfte es bleiben bis in alle Ewigkeit. Obwohl: Ein bisschen Veränderung zeichnet sich dennoch ab. Die überwucherten Alleebäume will man nun fällen - man braucht einfach mehr Holz für die kleinen Kreuzchen am Straßenrand.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.