Hingebungsvoll

Es dauert lange, bis sich die Menschen im Südwesten erregen. Dann kann sie aber auch keiner mehr bremsen. Hingebungsvoll kümmern sie sich um einen Bahnhof, und auch schon echte Revolutionäre kamen von hier. Zivilcourage in Württemberg und Baden. Landvermessung Teil sechs

Blick auf die Festung Hohenasperg, wo die jeweiligen Machthaber im Land über Jahrhunderte ihre gar zu aufmüpfigen und couragierten Bürger einquartierten. Und der Kontext-Stab zur Landvermessung steht diesmal in dem Buchenwald zwischen Winnenden und Öschelbronn, wo der Autor Uli Reinhardt mal seinen einsamen Protest gegen die Pershing-Raketen praktizierte Foto: Martin Storz

von Uli Reinhardt

Am späten Vormittag des 11. Juli 1985, einem Donnerstag, stellten US-Streitkräfte im dichten Buchenwald zwischen Winnenden-Bürg und Berglen-Öschelbronn eine Pershing-II-Abschusslafette auf. Ich war schon seinerzeit mit meinen damaligen Bundeskanzlern uneinig darin, was Taktik und Notwendigkeit des Nato-Doppelbeschlusses anbetraf, und bemühte mich wacker, in meinem Beruf als Reporter auch auf die lokalen Risiken dieser Atomraketen hinzuweisen.

Wenn etwa, wie mehrfach geschehen, diese atomar bewaffneten Raketen infolge heiß gelaufener Bremsen auf dem Transport-Tieflader in einem kilometerhohen Rauchpilz verbrannten, mussten doch Zweifel darüber aufkommen, ob unsere amerikanischen Freunde diese Hightech im Griff hatten, wenn sie nicht mal ihre Autos in Schuss halten konnten. Man weiß ja nicht, was ein dermaßen erhitztes Atom so alles anrichten kann. Aber glücklicherweise waren all diese so abgefackelten Geschosse nicht mit Atomsprengköpfen munitioniert gewesen. Sagten die Presseoffiziere.

Nun aber, mit dieser Rakete am Rande des Schwäbischen Waldes wurde das generelle Problem zu einer persönlichen Sache. Denn ich wohnte in Öschelbronn, und die Stellung befand sich einen Kilometer Luftlinie entfernt. Also malte ich mir ein Plakat, auf dem ich meiner Aversion gegen dieses atomaren Aufgemantle Ausdruck verlieh, die unten dann in großen Lettern in die Aufforderung mündete: „Yankee go home.“ So gewappnet, pirschte ich mich an die Stellung heran. Vielleicht war den Soldaten und Polizisten die Sicht versperrt gewesen, denn erst in Sichtweite der Pershing befahl mir ein GI, sofort stehen zu bleiben. Da er sein Gewehr im Anschlag hatte und auf mich zielte, tat ich das auch abrupt und versuchte, mit ihm zu diskutieren. Er aber lehnte das rundweg ab und beschied mir abschließend triumphierend, dass er darüber hinaus aus den Südstaaten käme und somit kein Yankee sei.

Es dauert lange, aber dann kann uns niemand bremsen

Mittlerweile war die Polizei herbeigeeilt und nahm mich im Drehgriff in Gewahrsam. Mein Einwurf, dass ich Deutscher sei und sie deswegen mich vor den Amis zu schützen hätten und nicht umgekehrt die Amis vor mir, blieb unbeantwortet. In sicherer Entfernung nahmen sie meine Personalien auf, kassierten mein Schild und ließen mich laufen.

Was lernen wir daraus? Wenn ich ein typischer Schwabe bin – und das muss man befürchten –, dann getrauen wir uns was und stehen stur auch dann dazu, wenn es keinen so richtigen Sinn macht. Nicht nur meine mir heimlich folgenden Söhne und deren Freunde lachten sich im Gebüsch krumm über meinen Schwachsinn: ein einzelner Mann mit einem Schild im Wald.

Dennoch: es dauert lange, bis wir uns erregen – dann aber kann uns auch niemand mehr bremsen. Aktuelles Beispiel Stuttgart 21. Fünf Millionen Flutobdachlose in Pakistan (nun schon im zweiten Durchgang), Hunger- und Kriegstote in Somalia, eine immer bedrohlichere und zunehmend unlösbare Gemengelage in Israel/Palästina/Iran/Türkei, schwer kontrollierbare Ausbreitung von Atomwaffen, unbeherrschbare Folgen der Nutzung der Kernenergie, Berlusconis Ende, gewaltige Klimakatastrophen infolge maßloser Nutzung unserer Biosphäre, Zweiklassenmedizin nun auch in Deutschland, drohender Super-GAU des Weltfinanzsystems – zur Hölle mit alledem: Wir kümmern uns hingebungsvoll und ausdauernd um einen Bahnhof.

Schubart und die Scholls, die Stauffenbergs und Georg Elser

Nichtschwaben könnten das vielleicht unverhältnismäßig nennen oder auch meschugge. Wir aber haben gegen den Ruf anzukämpfen, zuerst eine Bahnsteigkarte zu lösen, ehe wir im Bahnhof die Revolution ausrufen. Was ungerecht ist, denn wir haben auch schon durchaus Vorzeigbares zustande gebracht. Beispielsweise den Aufstand des „Armen Konrad“ im Remstal anno 1514. Zuerst beseitigte er eine knechtende Abgabenpolitik und setzte das Fundament für den deutschen Bauernkrieg.

Oder Christian Friedrich Schubart, der mit seinen „Sozialkritischen Schriften“ die Dekadenz des Adels anprangerte. Dafür rückte er 1777 in den Bau – also Hohenasperg –, der gerne als der höchste Berg des Südwestens geführt wird, denn es braucht oft Jahre, bis man vom Gipfel wieder runterfindet. Friedrich List: auch er verbrachte viel Zeit auf dem Hohenasperg, nachdem er 1822 vehement für Demokratie und Freihandel eintrat und in der Konsequenz weitsichtig ein länderübergreifendes Eisenbahnnetz forderte (jetzt sind wir schon wieder beim Bahnhof).

Es ist einfach so, dass der Bayer, beispielsweise, zwar grantelt, doch das ist bei ihm mehr das Grundrauschen seiner Befindlichkeit. Wenn die Badener und Schwaben bruddeln, dann steht das oft am Anfang einer aufbegehrenden Entwicklung, die nicht selten in etwas Genialem, Großartigem mündet. Heinrich Hansjakob beispielsweise gründete die erste Weingärtnergenossenschaft im Südwesten, eine der ersten Genossenschaften überhaupt. Gegen Widerstand. Mit Zivilcourage.

Wichtige Kämpfer gegen Hitler kamen aus unserem Gäu. Johann Georg Elser mit seinem Attentatsversuch im Bürgerbräukeller in München, die Geschwister Scholl und die Weiße Rose, schließlich auch die Stauffenberg-Brüder Claus und Berthold. Alle bezahlten mit ihrem Leben.

Viele 68er an der Freien Uni Berlin kamen aus dem Remstal

Ein Großteil der 68er an der Freien Uni in Berlin, nicht die vorn mit der großen Klappe, sondern die Kärrner dahinter, kamen aus dem Remstal. Sie beseitigten letztlich die beschämende Obrigkeits- und Hierarchiegläubigkeit der frühen Bundesrepublik, stärkten somit die Zivilgesellschaft.

Manfred Rommel, früherer Oberbürgermeister von Stuttgart, trat vor eine von seinem Parteifreund Mayer-Vorfelder aufgeputschte geifernde Ausländer-raus-Versammlung seines eigenen CDU-Ortsvereins und beschied der Meute in der Halle: „Wir sind schön längst eine Einwanderer-Gesellschaft, und das ist auch gut so.“ Oder 1977: Rommel entschied im Alleingang, die toten RAF-Häftlinge Baader, Raspe und Ensslin auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof beerdigen zu lassen, nahm dabei „wüaschde Brief“ in Kauf und bot den Stuttgarter Nachrichten die Stirn, die sich als auflagenstärkste Zeitung zum Sprachrohr des „Sturms der Empörung“ machte.

Er hielt was aus. Wir halten was aus. Und gewinnen zuweilen, mindestens auf lange Sicht. Unvergessen Wyhl. Über acht Jahre lang hielten Akademiker und Bauern den massiven Protest gegen das geplante Atomkraftwerk am Kaiserstuhl aufrecht, bis der damalige Ministerpräsident Lothar Späth 1983 das Bauvorhaben für eigentlich „unnötig“ erklärte.

Ja, und dann natürlich Mutlangen. Von dorther karrten die Amerikaner „meine“ Pershing II in den Öschelbronner Wald. Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd war einer der Stützpunkte für diese mit Atomsprengköpfen ausgerüsteten Raketen und das Symbol für die Kriegsstrategie der siebziger und achtziger Jahre. Deshalb organisierten wir dort Sitzblockaden, die hin und wieder zur besseren Wirksamkeit mit Promis bestückt werden konnten, mit ausländischen wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Robert Jungk, aber auch einheimischen wie Walter Jens. Das war viel Arbeit für die örtliche Justizbehörde, der die juristische Aufarbeitung dieses zivilen Ungehorsams oblag.

Einer der Höhepunkte dieses Protests gegen die Stationierung amerikanischer Atomraketen in Deutschland war die Menschenkette von Neu-Ulm bis Stuttgart, 108 Kilometer lang. Es kamen so viele Menschen, dass vielfach eine Doppelkette gebildet werden musste. Ein eindrucksvolles Aufbegehren! Für die bessere Medienwirkung fotografierten wir diesen Auflauf ab, Demonstrantengruppe für Demonstrantengruppe, die Hunderte von Filmen wurden nächtens in der Badewanne des Jugendzentrums Waiblingen entwickelt, die daraus resultierenden Fotoabzüge aneinandergeklebt, um diese Kette als ausgezeichnetes Kunstwerk in Füßgangerzonen und Museen rund um die Welt plastisch zu machen. Wir sind eben auch praktisch.

Und spätestens seit Hegel idealistisch. Wir glauben mit Schiller an die Kraft der Ideen.

1985 wurde das Wettrüsten übrigens vorläufig beendet, und 1989 fiel die Mauer. Man schreibt das absurderweise der Taktik Ronald Reagans als Verdienst zu. Ich denke, wenn Ronald Reagan sich überhaupt die Mühe einer Taktik gemacht hätte, dann wäre das die Nach-mir-die-Sintflut-Taktik eines alten Mannes gewesen, der sein Leben schon hinter sich hatte. Mir gefällt es besser, an einen Sieg unserer humanistischen Überzeugung zu glauben, an unsere Ideale, dass die andere Seite sich in ihren Widersprüchen aufgelöst hatte. Eine Gefahr, die heute uns „Siegern“ droht, da wir unsere Überzeugungen, unsere Ideen und unsere Träume auf Euro und Dollar reduziert haben. Womöglich gärt es da wieder am ehesten im Südwesten. Falls uns Stuttgart 21 nicht zu sehr in Beschlag nimmt.