Montagsinterview mit Mehmet Daimagüler: "Ich habe zwanzig Jahre lang die Schnauze gehalten"

Mit Anfang 30 war Mehmet Daimagüler ein Shootingstar: Mitglied des FDP-Bundesvorstands und einer Gruppe junger türkischstämmiger Politiker, zu der auch der heutige Grünen-Chef Cem Özdemir gehörte. Heute, mit Anfang 40, rechnet er mit seiner Vergangenheit ab.

"Heimat ist geradezu prädestiniert für eine Hassliebe", sagt Mehmet Daimagüler. Bild: Wolfgang Borrs

taz: Herr Daimagüler, Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie beklagen, sich als Sohn türkischstämmiger Einwanderer mit den immer gleichen Vorurteilen auseinandersetzen und sich stellvertretend für die Türken, die Muslime rechtfertigen zu müssen - dabei haben Sie mit dem Buch genau das wieder herbeigeführt. Nervt das nicht?

Mehmet Daimagüler: Bis jetzt nicht. Ich habe mich mit dem Buch ja auch sehr erleichtert, ich bin sehr viele Sachen losgeworden, die ich schon immer mal sagen wollte.

Etwa, wenn Sie gleich in der Einleitung deutschen Lesern einen Spiegel vorhalten, indem Sie sie mit Stereotypen über Deutsche konfrontieren - um erfahrbar zu machen, wie Einwanderer, Türken, Muslime ständig mit negativen Zuschreibungen konfrontiert sind.

Ich habe versucht, die Deutschen in Anführungsstrichen so zu beschreiben, wie tagtäglich Türken oder Muslime oder Migrationshintergrunddeutsche beschrieben werden. Da stehen dann Sachen, die man auch von Deutschen selbst hört oder liest. Aber wenn ein Türke daherkommt und das schreibt, dann kommt das gar nicht gut an. Das wollen die Leute nicht. Wenn das son Türke macht, ist es eben wirklich ärgerlich. Lustig ist, dass ich von vielen anderen Deutschen mit Migrationshintergrund dazu höre: "Endlich sagt es mal einer." Genau die Reaktion vieler Deutscher auf das Sarrazin-Buch.

Von deutschstämmigen Lesern dagegen bekommen Sie Mails mit der Frage, warum Sie die Deutschen so hassen. Hassen Sie die Deutschen?

Nein. Nein nein. Deutschland ist meine Heimat. Aber Heimat ist nie eindimensional. Man hat ihr gegenüber immer gemischte Gefühle, denke ich. Einige meiner Erinnerungen sind sehr negativ, ich habe da tatsächlich auch richtige Hassgefühle, wenn ich an manche Situation denke. Aber ich habe auch sehr liebevolle Gefühle und Erinnerungen.

Sie sind in Deutschland geboren, Ihre Eltern sind eingewandert, Sie haben unter anderem in den USA studiert. Warum ist Ihnen der Begriff Heimat so wichtig? Sie leben doch in einem sehr globalisierten Milieu.

Vielleicht bin ich am Ende aber doch irgendwie ein Junge vom Land. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und das hat mir auch ein großes Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt. Wenn ich an Heimat denke, denke ich vor allem an das Siegerland, wo ich geboren wurde. Ich habe in internationalen Unternehmen gearbeitet mit Kollegen, die heute hier und morgen dort leben und sich gar keine Gedanken über Heimat machen. Ich habe auch so gelebt und auch gerne so gelebt, aber ich wollte auch immer irgendwann zurück.

Ihre Heimat macht es Ihnen ja nicht leicht mit der Zugehörigkeit. Ich habe eine Lesung mit Ihnen erlebt, da wurde Ihnen das Recht abgesprochen, das Land, in dem Sie geboren sind, zu kritisieren, oder wenn schon, dann doch bitte schön auch mal in die Türkei zu gucken, wo ja auch nicht alles super sei.

Ja, das verstehe ich überhaupt nicht. Zum einen sagt man den Türken, jetzt orientiert euch mal an Deutschland, Deutschland ist jetzt eure Heimat, und wenn man sich dann mit seiner Heimat auseinandersetzt, heißt es plötzlich: Ja, dann musst du jetzt auch die Türkei kritisieren. Ich verstehe mich als Mensch in diesem Land, in dem ich vieles super finde, manches aber eben auch nicht. So geht es doch jedem Bürger dieses Landes! Und da will ich nicht mehr und nicht weniger dürfen als jeder andere. Aber Heimat ist ja geradezu prädestiniert dafür, dass man so eine Art Hassliebe für sie entwickelt. Das Siegerland, wo ich herkomme, ist noch nie eine weltoffene Gegend gewesen. Das ist ein Mittelgebirge, wo Sie nie weiter als drei Kilometer gucken können, dann fängt der nächste Berg an. Natürlich schlägt sich das irgendwann nieder auf die Psyche der Menschen.

Der Sohn türkischer Einwanderer wird 1968 in Siegen geboren. Von seinen Lehrern zunächst auf die Hauptschule geschickt, wechselt Daimagüler später aufs Gymnasium und macht ein ausgezeichnetes Abitur. Er studiert zunächst Jura in Bonn, später außerdem Volkswirtschaft und Philosophie an den US-Universitäten Harvard und Yale.

Bereits als Student knüpft Daimagüler Kontakte in die FDP, zunächst als Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Gerhart Baum und Burkhard Hirsch. Er tritt selbst in die FDP ein und gehört von 1997 bis 2005 dem Bundesvorstand der Partei an. Mit dem Grünen Cem Özdemir wohnt er eine Zeit lang in einer WG.

Im Jahr 2007 verlässt er nach seinen Auslandsaufenthalten die Partei und beendet seine politische Karriere.

Daimagüler lebt und arbeitet heute als Anwalt in Berlin. Sein 2011 erschienenes, teils autobiografisches Buch "Kein schönes Land in dieser Zeit" rechnet mit der unehrlichen und diskriminierenden Integrationspolitik Deutschlands, aber auch mit seinen eigenen politischen Fehlern ab.

Mehmet Gürcan Daimagüler: "Kein schönes Land in dieser Zeit - Das Märchen von der gescheiterten Integration". Gütersloher Verlagshaus 2011, 239 Seiten, ISBN 978-3579066943

Machen Sie denn hier in Berlin, in der Groß-, der Weltstadt, tatsächlich andere Erfahrungen? Oder in dem Milieu, in dem Sie arbeiten? Sind die Menschen da weltoffener?

Ach Quatsch. Vor Rassismus ist doch niemand gefeit. Nur lebt der promovierte Rassist seine Angst vor Fremden anders aus als ein kleiner Nazi, der irgendwo in Sachsen herumgrölt oder auf Leute einprügelt. Sarrazin hat ja gezeigt, wie der akademische Rassismus aussieht. Nein, was ich in Berlin erstaunlich fand, als ich herkam, waren die Türken. Es hat mir sehr imponiert, mit welchem Selbstbewusstsein die jungen Frauen und Männer hier durch die Gegend gingen. Die sind dadurch, dass sie eben nicht bloß eine geduldete Minderheit waren, mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein aufgewachsen.

Ihr Selbstbewusstsein kann doch auch nicht gering sein. Sie haben mit Ihrem Buch nicht nur viel Zorn auf sich gezogen, sondern auch unheimlich ausgepackt, persönlich und emotional.

Dazu gehört vielleicht entweder ein großes oder der totale Mangel an Selbstbewusstsein. Ich wollte kein politisches Abstraktum schreiben, sondern aus persönlichen Erlebnissen ein Bild zeichnen. Dass man dann zwangsläufig die Hosen runterlassen muss, gehört dazu. Und ich muss sagen, es tut gut! Ich fühle mich erleichtert.

Gibt es nur negative Reaktionen auf diesen Teil des Buches oder sagen Leute auch, ihnen sei ein Licht aufgegangen?

Schmähungen kamen vor allem von Leuten, die gar nicht das ganze Buch gelesen haben, sondern nur den Titel und den Namen des Autors. Die reagieren wie die Hunde von Pawlow, die gesabbert haben, sobald sie ein Glöckchen hörten, weil sie dachten, es gebe was zu fressen. Und diese Leute sabbern, sobald sie Türke, Türkei oder so was hören. Was sie ärgert, ist im Grunde doch, dass da ein Türke kommt, der sich artikulieren kann, der nicht einer ist, auf den sie herabblicken können, der sich nicht leicht in eine Schublade stecken lässt. Denen passt es nicht, wenn einer wie ich das ritualisierte Gedenken an den Holocaust kritisiert, das den deutschen Antisemitismus für den Rest des Jahres völlig ignoriert. Als ob es den nicht gäbe. Und wenn man darüber redet, dann nur über den Antisemitismus von jungen Muslimen. Da sage ich: Wenn 20 oder 30 Prozent der jungen Muslime in diesem Land antisemitisch denken, dann ist das, zynisch ausgedrückt, wahrscheinlich ein Fall erfolgreicher Integration. Denn ungefähr die gleiche Anzahl der jungen Deutschen tickt ja genauso.

Haben Sie keine Angst, dass Sie sich mit solchen Äußerungen in Ihrem beruflichen Umfeld schaden?

Meine Partner in meiner Kanzlei stehen voll hinter mir. Aber ich weiß, dass das nicht alle Mandanten so sehen. Ich verliere Mandanten. Aber so ist das eben im Leben. Andere Leute riskieren mehr für ihre Überzeugungen. Und wissen Sie, ich habe Nachholbedarf. Ich habe zwanzig Jahre lang die Schnauze gehalten und das Spiel mitgespielt. Irgendwann hat man keine Lust mehr und dann ist es auch gut.

Sie waren ja mal so etwas wie ein Vorzeigetürke, Mitglied im Bundesvorstand der FDP und einer Gruppe junger türkischstämmiger Nachwuchspolitiker. Auch Cem Özdemir, heutiger Grünen-Chef, gehörte dazu. Damals haben Sie durchaus nicht immer die Schnauze gehalten, Sie waren oft in Talkshows und wurden von den Medien gehypt.

So wie der Tod Benno Ohnesorgs eine ganze Generation politisiert hat, haben die rechtsextremen Anschläge von Mölln und Solingen und die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda eine Generation von Deutschtürken politisiert. Ich wurde damals gerade Deutscher, die Türkei war als Herkunftsland meiner Eltern einfach eine ferne Erinnerung. Und dann mussten wir uns positionieren. Ja, wir waren jung und neu, wir wurden gehypt und wurden dabei auch positiv diskriminiert, natürlich! Das war mir klar und ich habe das in Kauf genommen. Ich habe mich damals im Vorstand der FDP für ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht engagiert, aber zugleich habe ich die Klappe gehalten, wenn es um Kernbereiche des Diskurses ging. Wenn ich forderte, dass hier und dort am Staatsbürgerschaftsrecht etwas geändert wird, habe ich nicht gesagt, dass ich das Recht insgesamt in weiten Teilen für rassistisch halte. Weil das auch das Ende meiner politischen Karriere bedeutet hätte.

Das Wort Rassismus hat damals kaum jemand benutzt.

Außer der taz, da stand es. Ich habe das 10, 15 Jahre lang mitgemacht, bin dann in die innere Emigration gegangen, danach aus der Partei ausgetreten und heute glücklich, dass ich Dinge ansprechen kann.

Es gibt schon noch mehr Brüche dabei, oder nicht? Auch in Ihrem Buch erinnern Sie sich an manche Ihrer damaligen Äußerungen - Beispiel Daimagüler 2005: "Nicht jeder Muslim ist ein Terrorist. Aber fast jeder Terrorist ist ein Muslim." Und schreiben heute: Was habe ich damals manchmal nur für einen Blödsinn erzählt.

Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass mir schon damals klar war, dass solche Sprüche irgendwo zwischen Ignoranz und Opportunismus angesiedelt waren.

Opportunismus - wozu denn? Zugunsten der eigenen Karriere oder aus einer Angst vor der deutschen Mehrheitsgesellschaft heraus?

Nicht Angst, andersherum: das Bedürfnis, geliebt zu werden. Jeder möchte doch geliebt werden. Und das steigert sich eben auch ins Politische und Berufliche.

Das Gefühl der Zugehörigkeit, wie Sie es vorhin bei der Heimat beschrieben haben?

Ja, vielleicht. Vielleicht war ich einfach ein kleinbürgerlicher Spießer, der dazugehören wollte. Und das tat ja auch ganz gut. Wenn man so etwas gesagt hatte und dann abends, wenn man mit Guido joggen ging, der Guido ganz begeistert ist. Irgendwann habe ich angefangen, über meine Rolle nachzudenken. Ich habe gedacht, wenn du das jetzt gut performst, dann machst du das erfolgreich für dich selber, aber andere nehmen dich zum Vorbild. Und wenn du dich wirklich als Vorbild verstehen willst, darfst du nicht den ganzen Tag Bullshit erzählen. Ich bin in die USA gegangen, habe da noch mal studiert, und als ich zurückkam, bin ich aus der FDP ausgetreten.

Jetzt wirken Sie geläutert. Geradezu weise.

Uh, das hört sich ja furchtbar an! Vielleicht einfach authentischer. Guido Westerwelle war ein enger Freund von mir für ein Vierteljahrhundert. Und ich habe immer zwei Guidos kennen gelernt: einen Politiker und den privaten. Der private war eigentlich viel gewinnender, viel herzlicher, aber eben auch sehr viel verletzlicher. Deshalb hat er sich ja diesen öffentlichen Guido zugelegt. Aber irgendwann spüren die Menschen eben auch, dass man nicht authentisch ist, und dann mögen sie einen nicht und das wird dann auch zu einem politischen Problem. In dem Zwiespalt ist halt auch Guido. Wie komme ich auf ihn? Er hat mich politisch sehr geprägt, weil wir auch persönlich eng befreundet waren. Aber ich habe irgendwann feststellen müssen, dass ich das nicht will und nicht kann. Dass mir diese zwei Mehmets, die es dann gibt, einfach zu viel sind.

Wenn Sie jetzt die Chance hätten, ein richtig tolles neues Projekt zu entwickeln, was wäre das wohl?

Ach, bei so großen Bildern will ich gar nicht mehr mitspielen. Wichtig wäre mir, dass die Leute mal verstehen, dass Ideen und Überzeugungen, dass Rassismus nicht vom Himmel fällt. Haben die Bürger, die sich jetzt über die Nazimorde aufregen, auch Pfui zu Sarrazin gesagt? Haben sie nicht. Es gibt da aber einen Zusammenhang. Natürlich hat Sarrazin die Zwickauer nicht angeleitet, die haben ihre Morde ja schon vor seinem Buch begangen. Die wurden in den achtziger und neunziger Jahren sozialisiert, von anderen Sarrazins. Aber Sarrazins Saat wird auch aufgehen. Das dauert ein, zwei, vielleicht auch fünf Jahre. Viele wollen das nicht verstehen, dass ihr Applaus für Sarrazin interpretiert wird als Auftrag: Auftrag, Leute zu töten, Häuser anzuzünden und Terror zu verbreiten. Und da muss ich auch sagen, ja, wenn ich so dumm war, der Bild-Zeitung zu sagen, nicht jeder Muslim sei Terrorist, aber fast jeder Terrorist sei Muslim, dann habe ich dazu auch beigetragen. Und dann muss man sich irgendwann mal fragen, was habe ich getan?

Sie blicken sehr pessimistisch in die Zukunft.

Nein, eigentlich nicht. Wissen Sie, wenn man die Sarrazins dieser Welt herausfiltern könnte, bliebe hier doch eigentlich ein Land, das sich in den vergangenen zwanzig Jahren wahnsinnig zum Guten entwickelt hat. Wir haben einen schwulen Außenminister, einen schwulen Bürgermeister, einen Wirtschaftsminister und Parteivorsitzenden vietnamesischer Herkunft, einen türkischstämmigen bei den Grünen, eine protestantische Ostfrau als Bundeskanzlerin, drei türkischstämmige Ministerinnen, sogar unsere Fußballnationalmannschaft ist bunt wie nie. Wir haben uns in vielerlei Hinsicht sehr gut entwickelt. Wenn man das positiv werten will, kann man vielleicht sagen, die Sarrazins sind die letzten Zuckungen eines Deutschlands, das wir überwunden haben.

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