Kriegserklärung der radikalen Islamisten an den Norden

NIGERIA Die bisher blutigste Anschlagsserie der Gruppe „Boko Haram“ fordert über 200 Tote

Die Offensive der islamistischen Gruppe kommt nicht unerwartet

VON DOMINIC JOHNSON

BERLIN taz | Nigeria scheint endgültig in den ethnisch-religiösen Bürgerkrieg zu rutschen. Bis zu 215 Menschen, so am Sonntag die jüngste Bilanz von Medizinern aufgrund der in Krankenhäusern gesammelten Leichen, starben am Freitagabend bei einer Serie von Bombenanschlägen und Kämpfen in Kano, mit neun Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes und die größte des mehrheitlich muslimischen Nordens. Die radikalislamische Gruppe Boko Haram bekannte sich zu den Anschlägen.

Acht Orte im Zentrum von Kano wurden am frühen Freitagabend innerhalb weniger Minuten von Bombenexplosionen erschüttert, teils durch Selbstmordattentäter im Auto verübt. Die Serie von rund 20 Explosionen, so Augenzeugen, löste Panik aus. Eine städtische Polizeizentrale wurde von einer Autobombe komplett zerstört. Bomben trafen auch die Zentralen der Immigrationsbehörde und des Staatssicherheitsdienstes SSS.

Das regionale Polizeihauptquartier wurde von Bewaffneten angegriffen. Während Großbrände loderten und dichter Rauch über dem Stadtzentrum aufstieg, entwickelten sich Schusswechsel zwischen Polizisten und Angreifern, die am Samstag andauerten. In der Nacht zum Sonntag gingen zwei christliche Kirchen in der Stadt Bauchi in Flammen auf.

Abul Qaqa, ein Sprecher von Boko Haram, übernahm am Samstag gegenüber Journalisten telefonisch die Verantwortung für die Angriffe. Die islamistische Gruppe reagiere damit auf die Weigerung des Staates, inhaftierte Militante freizulassen, sagte er.

Es sind die blutigsten Angriffe, die Boko Haram jemals verübt hat. Die Offensive der islamistischen Gruppe, die für einen islamischen Staat in ganz Nigeria kämpft, kommt nicht unerwartet. Zu Weihnachten 2011 hatte Boko Haram eine Serie koordinierter Angriffe auf christliche Kirchen in mehreren Städten des Landes verübt. Danach hatte sie Christen und Südnigerianern ein Ultimatum gestellt, den muslimischen Norden zu verlassen.

Dass zeitgleich landesweit Massenproteste gegen eine staatliche Benzinpreiserhöhung Nigeria lahmlegten, drängte diese Drohung zunächst in den Hintergrund. Doch seit die Regierung am vergangenen Montag nach einer Woche Generalstreik nachgab, wartete das Land auf die nächste Stufe der Eskalationsstrategie Boko Harams.

Die Anschläge von Kano seien ein Beweis, dass „die Terroristen überall und jederzeit zuschlagen können“, analysiert in Lagos die Zeitung P.M.News: „Wieder sagt Boko Haram: wir sind klüger als ihr, ihr kriegt uns nicht!“

Israel bot Nigeria Hilfe bei der Terrorbekämpfung an. Die lokalen Behörden verhängten über Kano eine Ausgangssperre, vom Militär an Straßensperren durchgesetzt, die am Sonntag gelockert wurde. Die 9-Millionen-Einwohner-Stadt Kano ist multiethnisch und multireligiös, aber segregiert. Die meisten Christen und Südnigerianer haben sich im Stadtteil Sabon Gari gesammelt. Führer des christlichen südostnigerianischen Volkes der Igbo, aus dem in Kano so wie überall in Nigeria viele überregional gut vernetzte Geschäftsleute stammen, warnten, sie fühlten sich bedroht.

Tobias Michael Idika, Präsident des Igbo-Kulturverbandes „Ohanaeze“ in Kano und Leiter des Dachverbandes der ethnischen Minderheiten in der Stadt, erklärte, die Anschläge hätten das Ziel, die drei Millionen „Nicht-Indigenen“ in Kano zu verängstigen, damit sie die Flucht ergreifen. Er rief die Provinzregierungen Südostnigerias auf, die Evakuierung der Igbos aus Kano in die Wege zu leiten.