Brief aus Kairo

von Yasmine El Rashidi

Als ich das Video am Morgen des 17. Dezember 2011 bekam, dauerten die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden bereits seit 24 Stunden an. Zuerst dachte ich, es wäre nur ein weiterer Clip wie viele andere: Bereitschaftspolizisten, die das Feuer auf Demonstranten eröffnen; Protestierende, die Steine auf die Sicherheitskräfte werfen; Molotowcocktails, deren Funken über den Bildschirm schwirren. Während der letzten Monate, in denen die Auseinandersetzungen zwischen Militär und Demonstranten immer weiter zunahmen, hatte ich viele solcher Videos gesehen. Die Gewalt war fast zu einem gewöhnlichen Bestandteil unseres Alltags geworden.

Doch dieser Videoclip, den ich zunächst ignoriert hatte, stürzte bald aus allen Richtungen auf mich ein: auf Twitter, in Facebook-Posts und schließlich in der E-Mail einer normalerweise sehr besonnenen befreundeten Journalistin. „Das musst du dir ansehen, ist dringend und ernst“, schrieb sie in die Betreffzeile. Im Textfeld stand nur der Link zum Video: youtube.com/watch?v=jZ4zI6PZAVY&feature=share.

Ich klickte darauf und sah mir den Film wieder und wieder an: Dutzende Soldaten ziehen mit Schutzschilden und Schlagstöcken über den Tahrirplatz und vertreiben mit aller Härte ein paar hundert Demonstranten, die nach dem Beginn der Zusammenstöße am Vortag über Nacht in der Gegend geblieben waren. Sie reißen Protestzelte nieder und stecken sie in Brand. In einer Einstellung sieht man einen hohen Offizier, der mit seiner Pistole immer wieder auf flüchtende Demonstranten schießt (ob mit scharfer Munition oder Platzpatronen, ist nicht zu erkennen). Um ihn herum treten und knüppeln Soldaten die Demonstranten zu Boden, darunter auch einige Frauen.

In einer 90-sekündigen Einstellung ist zu sehen, wie eine Frau in Jeans, schwarzer Abaja und Kopftuch mit Stöcken geschlagen und getreten wird. Schwere Armeestiefel trampeln auf sie ein, sie ist teilweise entblößt, ihr BH ist zu sehen, und sie wird von einer Gruppe Soldaten über den dreckigen Asphalt des Tahrirplatzes weggeschleift. Eine Frau in rotem Mantel eilt ihr zu Hilfe und wird ebenfalls von einem Dutzend Soldaten mit Knüppeln zusammengeschlagen und getreten. Die beiden Frauen – mittlerweile bekannt als #redcoatwoman und #bluebragirl – wurden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.

Trotz der alltäglichen Gewalt des letzten Jahres und insbesondere der letzten Monate schien dieser Vorfall einen neuen Höhepunkt der Repression darzustellen. Bis auf wenige Ausnahmen waren Frauen in der Revolutions- und Protestbewegung bis dahin weitgehend geschützt. Seit 2005 – bei einer Anti-Mubarak-Demonstration – hatten die Agenten des Regimes Frauen nicht mehr in einer solchen Weise angegriffen. Und damals gab es wenig Film- und Fotoaufnahmen als Beweis für die begangenen Misshandlungen und Vergewaltigungen.

Dieses Mal verbreiteten sich die Videos von den Angriffen wie ein Lauffeuer. Bis Samstagabend hatten es die Bilder auf die Titelseiten aller unabhängigen Online-Nachrichtenportale gebracht. Uniformierte Soldaten attackierten ganz eindeutig Frauen; egal ob jung oder alt, erfahrene Demonstrantinnen oder einfache Lehrerinnen, Studentinnen, Ärztinnen oder Ladenbesitzerinnen. Einige Frauen schienen normale Passantinnen zu sein, die versehentlich ins Getümmel gerieten und ebenfalls angegriffen wurden.

Als ich gegen Mitternacht über den Tahrirplatz streifte, hielten sich dort mehrere tausend Menschen auf. Viele hielten voller Entrüstung die Frühausgabe der unabhängigen Zeitung al-Tahrir in Händen, die bereits ausverkauft war und auf dem Platz herumgereicht wurde. Auf der Titelseite war eine Großaufnahme von #bluebragirl, wie sie von drei Soldaten über den Platz geschleift wird.

In der Nacht waren die Menschen auf dem Tahrirplatz – zumeist Männer – außer sich: „Wie können sie es wagen, den ägyptischen Frauen so etwas anzutun?“ „Wir brauchen eine sofortige Machtübergabe an Zivilisten!“ „Das würde nicht einmal die israelische Armee den eigenen Frauen antun!“ Schnell entstand eine hitzige Diskussion darüber, was jetzt zu tun sei, und um zwei Uhr morgens gab es einen Plan: Am Dienstag dem 30. Dezember sollte um 15 Uhr ein Protestmarsch gegen die Militärgewalt gegenüber Frauen stattfinden.

Am folgenden Dienstag war ich mit meinem Bruder Saif und meiner Freundin Salima ab Mittag im Stadtzentrum unterwegs. Wir begutachteten die neuen Armeebarrikaden, die die Straßen der Innenstadt blockierten und uns den Zugang zum Haus eines Cousins abschnitten. Um 15 Uhr gingen wir zum Sammelpunkt für die Frauendemonstration vor der Mogamma, dem zentralen Verwaltungsgebäude der Regierung. Ich erwartete keine große Beteiligung – fast alle Leute, mit denen ich in den Tagen zuvor auf der Straße gesprochen hatte, waren der Meinung, #bluebragirl habe sich falsch verhalten, der Platz einer Frau sei nicht das Schlachtfeld. Einige waren überzeugt, die Titelseite von al-Tahrir sei eine Montage gewesen. Um halb vier wuchs die Versammlung allmählich auf rund 800 Frauen an. Viele entrollten Spruchbänder, auf denen sie den obersten Militärrat Scaf verurteilten, oder hielten Collagen aus Zeitungsseiten in die Höhe, die die Gewalt der letzten Tage dokumentierten. Zusammen mit meiner Freundin schloss ich mich der Gruppe von Frauen an, während mein Bruder sich bei den Männern einreihte, die begannen einen Schutzring um uns zu bilden.

Gegen 16 Uhr setzten wir uns in Bewegung, drehten eine erste Runde auf dem Tahrirplatz und hielten dann auf das Stadtzentrum zu. Im Gehen skandierten wir Sprechchöre für die Freiheit und forderten die Leute auf, gegen die Herrschaft des Scaf aufzustehen. Die uns umringenden Männer riefen: „Die Frauen Ägyptens sind eine rote Linie!“

Als wir vom Tahrirplatz in die Talaat-Harb-Straße einbogen, kamen die Menschen auf ihre Balkone und steckten die Köpfe aus den Fenstern. Viele sahen uns verwundert zu, andere feuerten uns an. Mit dem rhythmischen Gesang „Ya Ahaleena, Indamu Leena“ forderten wir die Leute auf, sich uns anzuschließen. Einige kamen herunter, und die Menge wuchs. Vierzig Minuten später schätzte ich die Zahl der Demonstrantinnen auf 4 000. Eine Stunde darauf meldete al-Dschasira 8 000 Frauen und ein paar tausend Männer, die den Protestzug umschlossen und hinter uns ihre eigene Demonstration bildeten. Frauen jeden Alters und aller sozialen Schichten waren gekommen.

Ich sprach mit vielen Studentinnen – von der Universität Kairo, der Ain-Shams-Universität und anderen Hochschulen – und sah viele bekannte Gesichter: die Künstlerin Hala El Koussy, die Filmproduzentin Mona Asaad, die Dramatikerin Laila Soliman und Samia Jahin, eine Musikerin der Band Eskenderella. Es gab liberale, aber ebenso viele verschleierte Frauen, die ihre Gefolgschaft für einen konservativen, islamisch geprägten Staat kundtaten. Von den Balkonen des Gebäudes der liberalen Al-Ghad-Partei winkte uns eine Gruppe von Männern zu. Meine Freundin meinte, sie habe Gänsehaut, und manche Leute twitterten, sie seien zu Tränen gerührt. Zwei Stunden später verbreitete sich die Nachricht, dass der Scaf bereits eine Erklärung des „Bedauerns“ über die Angriffe vom Wochenende veröffentlicht hatte.

Auf der Titelseite war eine Großaufnahme von #bluebragirl, wie sie von drei Soldaten über den Platz geschleift wird

Dieser dreistündige Marsch der Frauen in der Kairoer Innenstadt war ein Wendepunkt – nicht nur nach einer Woche, die durch Gewalt und Tod gekennzeichnet war, sondern auch für die Höhen und Tiefen von Hoffnung und Verzweiflung der vergangenen elf Monate. Frauen besetzen nicht mehr als eine Handvoll der 508 Sitze im ersten demokratisch gewählten Parlament; auch in der Übergangsregierung sitzen fast ausschließlich Männer; und während das Land vor allem konservative Islamisten in öffentliche Ämter wählt, sieht man auf den Straßen immer mehr verschleierte Frauen.

Und doch erlebte ich – als ägyptische Frau – in diesem Jahr der Revolution, mit all seinen offenkundigen Widersprüchen und Veränderungen, eine Befreiung, die ich mir niemals erträumt hätte. Seit den achtzehn Tagen der Revolution – als die Frauen ein ebenso wichtiger Faktor waren wie die Männer und ihre Stimmen ebenso kritisch – bis zum Marsch der Frauen im Dezember hat sich etwas bewegt.

Während der Revolution und seither immer wieder habe ich gesehen, wie Frauen die Straße zurückerobern und das Recht einfordern, ihre Meinung zu sagen und zu protestieren. Ich habe gesehen, wie Frauen den Soldaten gegenübertraten und sich zur Wehr setzten – wie die Aktivistin Nawara Negm, als sie im Januar ebenfalls angegriffen wurde. Ich habe beobachtet, darüber berichtet und auch selbst erfahren, wie sich Frauen zunehmend wohlfühlen in ihrer öffentlichen Rolle und mit ihrem Platz auf der seit Ewigkeiten von Männern dominierten Straße.

In den zwölf Monaten seit dem 25. Januar 2011 hat sich etwas Grundsätzliches verändert, jedoch nicht auf der Ebene der Rechte oder der Politik oder der vieldiskutierten Pläne von Frauengruppen, Frauen politisch einzubeziehen und ihnen zu mehr Macht zu verhelfen. Die wirkliche Veränderung geht viel tiefer: Wir haben unsere Stimme wiederentdeckt, unsere Identität; und wir haben verstanden, dass nur wir selbst unsere Rechte erstreiten können und nicht darauf warten sollten, bis sie uns irgendjemand gewährt.

Aus dem Englischen von Jakob Horst

Yasmine El Rashidi ist Journalistin in Kairo und schreibt für US-amerikanische Zeitungen.

© Le Monde diplomatique, Berlin