„Lieber sterben, als verhaftet zu werden“

ARABELLION Während die Stadt Homs mit Panzern beschossen wird, berichtet die in Damaskus lebende Schriftstellerin Rosa Yassin Hassan über die ebenfalls angespannte Situation in der syrischen Hauptstadt

„Wir sind wirklich am Ende. Natürlich hat man auch vor den Heckenschützen Angst. Die Menschen, die auf die Straße gehen, wissen, dass sie sterben können!“

ROSA YASSIN HASSAN

VON ROSA YASSIN HASSAN*

Meine persönliche Situation ist einigermaßen erträglich, denn ich werde im Gegensatz zu anderen Aktivisten in Syrien nicht direkt bedroht. Auch ist die Lage in Damaskus und in Dscharamaneh, wo ich wohne, noch vergleichsweise ruhig. Zwar wird auch bei uns der Strom stundenlang abgestellt, es gibt oft kein Telefon, keine Heizmöglichkeit, die Teuerungsrate ist unglaublich hoch, aber zumindest findet man einen Laden, wo man einkaufen kann.

Aber natürlich finden auch in Damaskus Demonstrationen statt, auf die mit Gewalt reagiert wird, und dann kann man das Haus nicht verlassen. Zudem hat das Regime in den letzten Monaten Bombenanschläge verübt – und ich bin sicher, dass es das syrische Regime gewesen ist. Es kann jeden Moment zu einer Explosion kommen. Die Lage verschlechtert sich ständig.

Viel schlimmer aber ist die Situation in den Brennpunkten, wo jeden Tag demonstriert wird, wie in Homs, Hama, Idlib, Dschisr al-Schughur, Deraa, in einigen Vierteln von Deir al-Zor und im Umland von Damaskus. Da ist der Strom stunden- und tagelang abgesperrt, das Telefon ebenso, es gibt keine Möglichkeit zu heizen, es gibt kein Öl, kein Gas. Außerdem herrscht dort fast immer Ausgangssperre, die Menschen schaffen es kaum, ihre Bedürfnisse zu decken.

Außerdem hatten die Aktivisten versucht, einen landesweiten Generalstreik auszurufen. Das war zwar nicht sehr erfolgreich, denn so ein Streik erfordert den Zusammenschluss einer ganzen Gesellschaft, und der ist leider in Syrien nicht vorhanden, aber trotzdem wird noch immer in einigen Regionen gestreikt. Es ist unter solchen Umständen sehr schwierig, die Menschen zu versorgen, die dort täglich zu dutzenden oder hunderten verletzt werden. Die Toten werden beerdigt, aber die Verletzten müssen behandelt und an sichere Orte transportiert werden, und das alles wird von Tag zu Tag komplizierter.

Ich selbst habe natürlich auch an Demonstrationen teilgenommen. Man kann sich nur sehr schwer dafür verabreden. Über Facebook, wie in Ägypten, geht es in Syrien nicht. Facebook und das ganze Internet werden überwacht. Jeder Demonstrationsaufruf über Facebook wäre zum Scheitern verurteilt, man müsste mit einer hohen Präsenz der Sicherheitskräfte furchtbarer Brutalität rechnen. Das haben wir zu Beginn einige Male erlebt.

Aber auch das Telefon wird ja abgehört. Deshalb verständigen sich die Leute, die außerhalb des Viertels wohnen, in dem die Demonstration stattfinden soll, mit Geheimcodes, um sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem Ort zu treffen: „Wir laden euch morgen um 15 Uhr zu Tabouleh ein. Ich hoffe, ihr kommt.“

Die Aktivisten, die in den entsprechenden Vierteln wohnen, informieren sich gegenseitig mündlich. Weil das einfacher ist, sind die Demonstrationen mittlerweile meist auf jene Regionen beschränkt, wo die Menschen sich kennen. Das Misstrauen gegenüber anderen Menschen ist sehr groß. Viele junge Männer sind verhaftet worden, weil sich Agenten Assads in die Demonstration eingeschlichen haben.

Nicht religiös motiviert

An Freitagen wird das Regime regelrecht hysterisch und setzt alles daran, die Menschen daran zu hindern, nach dem Freitagsgebet zu demonstrieren. Die Freitagsgebete sind nicht Auslöser für die Demonstrationen, die Demonstrationen sind nicht religiös motiviert, sondern weil die Moscheen die einzigen Orte sind, wo man sich versammeln kann.

Weil das Regime der Situation kaum noch Herr wird und die Anzahl der Militärangehörigen und der Sicherheitskräfte nicht mehr ausreicht, wurden unzählige neue Jobs geschaffen. Einige Leute – viele von ihnen gehören den Minderheiten an – bekommen nun ein monatliches Gehalt, haben Geheimdienstausweise, und werden mit Waffen und Munition ausgestattet und so auf die Demonstrationen losgelassen.

Frauen nehmen nur noch selten an den Demonstrationen teil. Es ist zu brutal geworden. Ich kenne viele Männer, die lieber sterben würden als verhaftet zu werden. Die Verhafteten werden furchtbar gefoltert.

Manchmal organisieren die Frauen ihre eigenen Demonstrationszüge, die aber von Männern aus der jeweiligen Region beschützt werden. Wenn Sicherheitskräfte oder Schlägertrupps die Demonstration angreifen, können die Frauen aber so zumindest fliehen.

Frauen leisten darüber hinaus großartige Arbeit. Sie transportieren Nahrungsmittel, Geld, medizinisches Material. Sie arbeiten in den Feldlazaretten als Krankenschwestern. Sie dokumentieren die Ereignisse. Sie können sich problemloser bewegen als Männer. In einer orientalischen Gesellschaft unterzieht man eine Frau nicht einfach öffentlich einer Leibesvisitation.

Es herrscht allgemein eine große Angst vor der Zukunft. Aber die Angst vor der Diktatur, vor den Unterdrückern ist verschwunden. Ich kenne Mütter, die ihre Söhne tadeln, wenn sie nicht auf die Demonstrationen gehen. Sie sagen, das Leben der Anderen sei nicht kostbarer als ihres. So weit ist es mit den Syrern gekommen. Wir sind wirklich am Ende. Natürlich hat man auch vor den Heckenschützen Angst. Die Menschen, die auf die Straße gehen, wissen, dass sie sterben können!

Die Situation in Syrien ist nicht nur das Produkt der jetzigen Krise, sondern von vier Jahrzehnten Herrschaft der Assad-Familie, während der die syrische Gesellschaft zersplittert wurde. Es wurden systematisch unsichtbare Trennmauern zwischen den Religionsgemeinschaften und Schichten errichtet. Das Ergebnis sieht man heute: In einem Viertel sterben Menschen, und im Nachbarviertel, in dem Menschen einer anderen Konfession leben, wird gefeiert und getanzt.

Diesem Ziel dient auch die unglaubliche Mobilisierung der staatlichen Medien. Dort werden Dinge frei erfunden oder falsch dargestellt. Alle Medien in Syrien sind entweder staatlich oder halbstaatlich, was dasselbe ist. Das Regime hat es auf diese Weise geschafft, den Minderheiten Angst einzujagen, so dass sie ihr Schicksal mit dem des Regimes verknüpfen. Ein Großteil der Minderheiten glaubt der Behauptung des Regimes, dass es sich um eine islamische und salafistische Revolution handelt, und dass sie im Fall eines Regimesturzes umgebracht und ausgelöscht würden. Deshalb reagieren manche Angehörigen der Minderheiten mit Gewalt auf die Aktivisten. So ist es uns auch bei einer Demonstration in Dscharamaneh passiert.

In einigen Gegenden haben die Menschen die vier arabischsprachigen Satellitensender, die die Revolution seit Beginn medial unterstützt haben – Aljazeera, al-Arabiya, BBC und France24 – bei sich gelöscht. Die Leute wollen diese Nachrichten einfach nicht sehen. Sie haben sogar Schilder mit den Logos von Aljazeera oder BBC auf den Boden gelegt, so dass man darauf treten muss. Menschen, die sowieso Angst haben, schenken diesen Sendern keinen Glauben mehr.

Die brutale Gewalt des Regimes gegenüber der Revolution hat auch gewalttätige Gegenreaktionen hervorgerufen, und das ist ganz natürlich. Wir befinden uns jetzt im elften Monat, in dem brutale, ungezügelte Gewalt gegen die Demonstranten angewendet wird. Aber ich möchte die derzeitige Situation nicht als Bürgerkrieg bezeichnen. Es kommt zu Vorfällen. Einzelne Zivilisten haben sich zwar bewaffnet, aber noch kämpfen nicht bewaffnete Zivilisten gegeneinander. In Anbetracht der unglaublichen Mobilisierung und des schmutzigen Spiels mit den Konfessionen kann es sein, dass es zum Bürgerkrieg kommt. Die Demonstrationen waren zumeist friedlich, die Demonstranten trugen keine Waffen.

Das Regime hätte das Problem von Anfang an auf politischem Weg lösen können, aber es hat die Anwendung von Gewalt vorgezogen, und es leugnet, dass es überhaupt eine Revolution gibt. Das Regime betrachtet die Revolution noch immer als Aufruhr von bewaffneten Banden und als ausländische Verschwörung.

Wie es weiter geht, weiß ich wirklich nicht, und ich glaube auch nicht, dass es irgendjemand weiß. Es gibt Visionen, Vorstellungen, Optionen, Hoffnungen, aber niemand hat eine genaue Antwort auf die Frage nach der Zukunft. Ich habe gehofft – und ich glaube, die Mehrheit der Opposition wäre damit einverstanden –, dass der Präsident zurücktritt und die Macht für einen begrenzten Zeitraum an einen Stellvertreter übergibt. Das wäre meiner Meinung nach eine akzeptable Lösung. Ich persönlich würde mir allerdings eine radikalere Lösung wünschen. Doch das syrische Regime glaubte bis zuletzt, einen Dialog mit der Opposition führen zu können. Das ist jetzt absolut unmöglich. Alle, wirklich alle Gruppierungen der Opposition sind inzwischen gegen einen Dialog mit Assad.

Dialog ist eine Sache, Verhandlung eine andere. Man kann nach all dem Töten keinen Dialog führen, man kann nur über die Art der Machtübergabe verhandeln. Wenn der Präsident bleibt, steht das Land vor einem Bürgerkrieg. Das sehe ich ganz deutlich vor Augen.

*Aufgezeichnet und übersetzt von Larissa Bender, Ende Januar

Auf Deutsch ist von Rosa Yassin Hassan erschienen: „Ebenholz“. Roman. Aus dem Arabischen von Riem Tisini. Alawi Verlag, 300 Seiten, 19,90 Euro.

Im Herbst erscheint dort auch ihr zweiter Roman auf Deutsch unter dem Titel „Wächter der Lüfte“