Böhmisches Viertel als Stadtlabor

Neukölln Die Gegend um den Richardplatz feiert 275-jähriges Jubiläum – mit neu gepflasterten Wegen und Stadtspaziergängen. Schon im 18. Jahrhundert war das Viertel bekannt für seinen hohen Migrantenanteil

Man könnte meinen, man sei auf dem Dorf. Verträumte Gärten und verwunschene Höfe prägen die Kulisse im Böhmischen Viertel rund um den Richardplatz in Neukölln. Doch wer die Menschen betrachtet, die hier unterwegs sind, der spürt die Großstadt. Eine Frau mit Kopftuch spaziert mit ihren Kindern die Richardstraße entlang. Vom Bolzplatz hört man hitzige Rufe von Jugendlichen in unterschiedlichen Sprachen.

Neukölln ist bekannt für seinen hohen Migrantenanteil. Das war auch schon vor 275 Jahren so, als das Böhmische Viertel gegründet wurde. „Historisch betrachtet entstand in der Richardstraße durch die Ansiedlung böhmischer Glaubensflüchtlinge bereits 1737 eine Art kulturelles Stadtlabor“, sagt Stadtplanerin Cordelia Polinn, deren Vorfahren vor zehn Generationen aus Tschechien an den damaligen Stadtrand von Berlin umsiedelten. Zusammen mit anderen Anwohnern des Böhmischen Viertels engagiert sie sich beim Kulturprojekt „Glaubensfreiheit“. Zum 275-jährigen Jubiläum startet die Initiative ab Juni eine historische und multikulturelle Veranstaltungsreihe.

Es soll Stadt- und Gartenspaziergänge geben, Konzerte, Lesungen und Vorträge zum Thema Glaubensfreiheit und Integration. „Die Böhmen können als historisches Beispiel für Migration und Integration in Berlin und vor allem in Neukölln betrachtet werden“, sagt auch Henning Vierck, Initiator des Projektes.

Der Bezirk will das Jubiläum nutzen, um das historische Flair des Viertels zu stärken: In diesem Jahr sollen entlang der Richardstraße die Gehwege verbreitert und mit einem historischen Reihenpflasterstein versehen werden. Das soll nicht nur gut aussehen, sondern auch den Verkehr beruhigen: „Es entstehen Straßenverengungen, getreu dem Motto ‚Tempo rausnehmen‘“, erklärt der Neuköllner Baustadtrat Thomas Blesing (SPD).

Die neuen Böhmen

Drei Jahre hatten Anwohner und Behörden diskutiert, wie die Richardstraße gestaltet werden soll. Man habe zu einem Kon- sens gefunden, betont Blesing. Über eine Million Euro lasse sich der Bezirk die Verschönerung der historischen Straße kosten.

Wenn alles klappt wie geplant, werden demnächst immer wieder die Stadtspaziergänger der „Glaubensfreiheit“ hier unterwegs sein. Auch die libanesischstämmigen Schwestern Rascha und Rima Akil wollen Besucher durch ihr Viertel führen. Unter dem Motto ein „Internationales Dorf“ schildern die in Rixdorf aufgewachsenen Studentinnen das Leben im großstädtischen Dorf aus ihrer Sicht.

Die Tour gibt es je nach Publikum in englischer, französischer, deutscher und arabischer Sprache. Sie führt vorbei an Scheunen, Kutscherstellen, einer Statue von Friedrich Wilhelm I., an einer Moschee und an der Richard-Grundschule, die die beiden Schwestern früher besuchten. Henning Vierck sagt über die beiden jungen Frauen: „Sie sind die neuen Böhmen.“

Constantin Schöttle

www.glaubensfreiheit-heute.de