Familien hinter den Bergen

ZWEI FILMDEBÜTS AUS DER TÜRKEI „Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters“ ist nah am Dokumentarischen, „Tepenin ardi – Beyond the Hill“ holt den Western nach Anatolien

Emin Alper bricht mit dem Minimalismus, insbesondere mit dem naturalistischen Bildregime, der das türkische Autorenkino prägt und bisweilen ein wenig einschnürt

VON LUKAS FOERSTER

Zwei türkische Autorenfilme, zwei Spielfilmdebüts, zwei Familiengeschichten mit einander fast diametral entgegengesetzten Ausgangslagen: Orhan Eskikiöys „Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters“ erzählt von einer maximal zerrissenen Familie und von den Versuchen, wenigstens die Bedingungen dieser Zerrissenheit zu begreifen. „Tepenin ardi – Beyond the Hill“ geht von einer hierarchisch geführten, mit aller Gewalt zusammengehaltenen Familie aus, die an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen droht. Die erste Familie ist eine minoritäre, eine kurdisch-alevitische, die zweite eine türkische, und vielleicht stehen erst beide gemeinsam wirklich für das Land ein, in dem die Filme entstanden sind.

Eine Stimme vom Tonband ist alles, was in Eskiköys Film vom Vater bleibt. Jetzt spricht sie aus der Vergangenheit hinein in die Gegenwart, in lange, unbewegte Einstellungen, zu vereinsamten, isolierten Individuen. Aktivieren kann die Stimme niemanden mehr, der Film wird dennoch von ihr ergriffen: wenn die Tonbandaufnahmen abgespielt werden, wird der Kamerablick autonom, löst sich von den Figuren, erkundet die Welt wie aus einem fremden, gespenstischen Antrieb heraus. Die Stimme erzählt vom Leben in Deutschland, im Exil, fragt nach dem Leben der Frau, nach den Kindern. Die Frau, Bâse, hat nie lesen gelernt, ihr bleiben im einsamen Alter, in der dörflichen Heimat, die sie nicht verlassen will, nur drei Stimmen. Zwei sind entkörperlicht: die konservierte des fern der Heimat verstorbenen Mannes und die telefonisch vermittelte eines im Untergrund lebenden Sohnes; sie bringt ihm kurdische Redewendungen bei, die in Vergessenheit zu geraten drohen. Dem anderen Sohn, Mehmet, kann sie noch leibhaftig begegnen. Da ist eher sie es, die ihn auf Distanz hält, weil er zu viele Fragen stellt, weil er mehr wissen will über die Tonbänder aus der Vergangenheit.

Basê Dogan spielt sich selbst, mehr oder weniger, ihr Sohn ebenfalls, auch wenn Mehmet im echten Leben Zeynel Dogan heißt. Ein Spielfilm nahe am Dokumentarischen, der von vielen misslingenden Kommunikationsversuchen erzählt und der ganz am Ende doch noch, in einem gewissermaßen retroutopischen, Zeit und Raum transzendierenden Schwenk einen Blick auf die vorher versiegelte Vergangenheit imaginiert.

Der andere Film, „Tepenin ardi – Beyond the Hill“, ist eines der außergewöhnlichsten Debüts im türkischen Kino der letzten Jahre. Emin Alper bricht mit dem Minimalismus, insbesondere mit dem naturalistischen Bildregime, der das türkische Autorenkino – „Babamin Sesi“ inklusive – prägt und bisweilen ein wenig einschnürt. Einen anatolischen Western hat er gedreht, mit viel Gespür für die Dynamik des Genrekinos. „Tepenin ardi“ spielt in einer abgelegenen Bergregion, in einem Talkessel von atemberaubender Schönheit. Ein drei Generationen umspannender Familienclan schließt sich zusammen, als der gemeinsame Besitz bedroht erscheint von unsichtbaren Nomaden: mit zusammengehauenen Fichtensetzlingen fängt es an, doch der Griff zum Gewehr folgt nur allzu bald.

Von Anfang an ist klar, dass es um die Externalisierung interner Probleme geht: Das Familienoberhaupt, der Großvater Faik, blickt auf seinen seinerseits eher passiv aggressiven Helfer Mehmet herab und hält wenig von seinem Sohn, der sich längst in die Stadt abgesetzt hat und nur für die Dauer des Films, für einen Besuch, zurückkehrt, die Enkelgeneration bietet noch weniger Anlass zu Hoffnung. Die einzige Frau, Meryem, sitzt derweil im Wohnzimmer und kocht Tee für ihre Männer, die sich für einen Feldzug ins Ungewisse rüsten.

Soweit der Film politische Allegorie sein will (und der Wille ist unübersehbar), bleibt er ein wenig schwerfällig, auch ein wenig zu sehr im Allgemeinen: Ingroups und Outgroups gibt es überall, das Patriarchat leider sowieso. Aber was der Film dazwischen und daneben mit den Landschaften macht, mit seiner fein gearbeiteten Tonspur und mit den Schauspielern – besonders hervorzuheben: Tamer Levent als Faik, der könnte auch einen texanischen Großgrundbesitzer spielen oder einen Ölbaron –, ist erstaunlich. Und genauso erstaunlich ist, wie der Film die Spannung hält, obwohl fast alle wichtigen Ereignisse offscreen geschehen.

■ „Tepenin ardi – Beyond the Hill“. Regie: Emin Alper. Mit Tamer Levent, Reha Özcan u. a. Türkei/ Griechenland 2012, 94 Min.

■ „Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters“. Regie: Orhan Eskiköy, Zeynel Dogan. Mit Basê Dogan, Gulizar Dogan u. a. Deutschland/Frankreich/Türkei 2012, 88 Min.