Was wir nicht zu denken wagen

DENKVERBOTE Ohne Not, ohne Bedrohung durch den Staat, mauert sich diese Gesellschaft in immer stärkerem Maße ein. Wir drohen an Tabus zu ersticken, die wir uns auch noch selbst auferlegen

Da Augstein die Politik der israelischen Regierung verurteilt, muss er – mindestens – ein Gegner Israels sein

VON BETTINA GAUS

Sind die Bürgerrechte in einer Demokratie, in der Kirche und Staat getrennt sind, grundsätzlich besser geschützt als in einem Land mit Staatsreligion? Selbstverständlich, keine Frage. Unbegreiflich, dass eine Universität es überhaupt für nötig hält, dazu ein Seminar abzuhalten.

Ja, der Ansicht sei sie auch gewesen, sagt die Studentin. Eine Agnostikerin, der – wenn überhaupt – allenfalls die Ideale der Aufklärung heilig sind. Sie habe festgestellt, dass sie selbst voller Vorurteile stecke. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, die Trennung von Kirche und Staat als notwendige Voraussetzung für ein freiheitliches Gemeinwesen in Zweifel zu ziehen. Bis eben zu diesem Seminar, das von einem liberalen Professor aus den USA angeboten worden sei. „Jeder Staat schränkt Bürgerrechte ein“, meint sie, „und sei es auch nur, um Rechte anderer nicht zu verletzen.“ Letztlich gehe es immer um das Thema Minderheitenschutz. Man müsse gar nicht den „ewigen Kopftuchstreit“ bemühen. Fragen wie die, ob man die Chance habe, Gebetszeiten oder Essvorschriften einzuhalten, berührten ebenfalls das Recht auf Religionsfreiheit. „Inzwischen denke ich, dass es keine theoretische Begründung dafür gibt, dass ein laizistischer Staat automatisch das größtmögliche Maß an Toleranz gepachtet hat.“

Damit dürfte sie in Europa wenige Verbündete finden. Dort steht die überwältigende Mehrheit der Einführung einer Staatsreligion ablehnend gegenüber – schon deshalb, weil vielen sofort das Bild eines islamistischen Gottesstaates in den Kopf kommt, in dem Dieben die Hand abgehackt wird. Andere verwerfen eine Verbindung zwischen Staat und Religion aus demokratietheoretischen Erwägungen. Ohne dass die meisten von denen allerdings einen inneren Widerspruch sehen, wenn der Staat Israel sich als „jüdisch“ definiert und dennoch als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ gilt.

Kann aus dem bisherigen Text geschlossen werden, dass die Autorin entweder die Trennung von Kirche und Staat aufgehoben sehen möchte oder Israel aus religiösen Gründen das Recht abspricht, sich als Demokratie zu bezeichnen? Nein. Weder das eine noch das andere kann daraus gefolgert werden. Der Artikel liefert keine feste Meinung.

Dennoch werden wohl manche Leute den Text auf Verborgenes hin lesen und die „eigentliche“ Haltung der Autorin zum Thema zu entlarven suchen. Man ist daran gewöhnt, dass offene Fragen allenfalls im vertrauten Kreis erörtert werden – nicht öffentlich. Verständlich, dass dies im Bereich der Politik so ist. Schließlich werden dort Kandidaten ihrer Standpunkte wegen gewählt. Aber warum finden nicht einmal in Medien ergebnisoffene Diskussionen statt? Statt dessen flammende Überzeugungen, abschließende Urteile. Täglich, überall.

Schlimmer noch: Sobald eine Position von der veröffentlichten Mehrheitsmeinung abweicht, gibt es kaum noch eine Chance, dass sie wörtlich und ernst genommen wird – unterstellt wird regelmäßig eine weiter gehende, geheime Absicht. Wer in einer vollständigen politischen Integration Europas keinen Nutzen sieht, ist ein Nationalist und Gegner der EU. Wer die Weisheit einer Entscheidung der US-Regierung bezweifelt, ist Antiamerikaner. Wer die Beobachtung von Linken durch den Verfassungsschutz für absurd hält, ist verkappter Kommunist. Die Liste ist unvollständig.

Dieser Mechanismus lässt sich auch bei der Diskussion über den angeblichen Antisemitismus des Publizisten Jakob Augstein beobachten. Da er die Politik der israelischen Regierung verurteilt, muss er – mindestens – ein Gegner Israels sein. Wenn eben nicht gar ein Feind der Juden. Weswegen Augstein im Netz auch von Neonazis unterstützt wird. Andere, die ihm zur Seite springen, kritisieren die Vorwürfe gegen ihn als „überzogen“. Was ja zugleich bedeutet: Vorwürfe sind schon berechtigt, nur nicht so schwer wiegende. Begründungen dafür werden selten geliefert, seltener noch eingefordert. Schade. Eine inhaltliche Diskussion über die Thesen von Augstein könnte doch interessant sein.

Ohne Not, ohne Bedrohung durch den Staat, mauert sich diese Gesellschaft in immer stärkerem Maße ein. Wir drohen an Denkverboten zu ersticken, die wir uns selbst auferlegen. Und bedrohen damit die Demokratie.

Bettina Gaus, 56, ist politische Korrespondentin der taz, für die sie seit 22 Jahren arbeitet. Sie verabscheut Ausgrenzung.