Wenn der religiöse Hass gewinnt

FANATISMUS Wie aus dem Nichts explodieren Bomben: die Schriftstellerin Geetanjali Shree und ihr Roman „Unsere Stadt in jenem Jahr“

Zunächst sind es kleine Hinweise: Kinder spielen nicht mehr Räuber und Gendarm, sondern Hindi und Muslim

In einer fiktiven indischen Stadt entladen sich die Spannungen zwischen Muslimen und Hindus. Drei Freunde – mittendrin – stellen sich dem bestialischen Sog aus Hasstiraden und Gewalttaten entgegen, doch sie entkommen ihm nicht. Die Erzählerin reiht zahllose Erzählschnipsel aneinander, verwebt sie miteinander und der Leser wird Augenzeuge erschütternder Ereignisse.

Geetanjali Shree, unter indischen Literaturkritikern als herausragende Autorin bekannt und dieses Wochenende Gast der taz beim taz.lab in Berlin, ist mit „Unsere Stadt in jenem Jahr“ ein ungewöhnlicher Roman geglückt: Sie beobachtet fein und dokumentiert sorgsam, was nach außen chaotisch wirkt. Entwirrt mit psychologischem Gespür, wie Hass und Unerbittlichkeit in unser Inneres sickern und sich dort ausbreiten.

Die Welt von Sharad, Shruti und Hanif ist in Ordnung. Sharad und Hanif sind Freunde und unterrichten als Historiker am Soziologischen Institut der Stadt. Shruti und Hanif sind ein Paar, und alle drei leben gemeinsam mit Daddu, dem humorvollen Großvater, in einem Haus. Auf die Unruhen der Stadt blicken sie aus der Distanz ihrer intellektuellen, säkularen Welt.

Zunächst sind es kleine Hinweise: Ein seltsamer Tonfall irritiert, da spielen Kinder nicht mehr Räuber und Gendarm, sondern Hindu und Muslim oder die Ruhe über der Stadt beschwört plötzlich Angst herauf. Dann, wie aus dem Nichts, eskaliert die Gewalt, Bomben explodieren, Häuser brennen, die Polizei zählt Tote und Verletzte.

Wie in Zeitlupe entwickelt Geetanjali Shree die Charaktere ihrer Protagonisten. Manche Erzählsequenzen stehen dem Leser vor Augen, als hätte er gerade ein Theaterstück gesehen. Ihre Metaphern baut sie langsam auf, und gerade deswegen bleiben sie lange haften.

Am Institut diskutiert jeder mit jedem. Die Lehrenden wollen sich gegen den religiösen Wahn mit Artikeln, Plakaten und Friedensmärschen wehren. Sie nehmen das Zentrum der Hindu-Nationalisten, ein Kloster, in Augenschein. Wandern durch die Straßen und befragen die Menschen. Sie wollen herausfinden, was vor sich geht.

Doch es ist schwer, sich der Atmosphäre in der Stadt zu entziehen. Schwer, eine Sprache zu finden, die nicht von Vorurteilen und Hass infiziert ist. Die intellektuellen Diskussionen werden hitziger, hilfloser, inhaltsloser. Hanif, bislang die Hoffnung des Instituts, verstummt. Hat sich seine Identität bislang aus vielen Zuschreibungen konstituiert, bleibt ihm jetzt nur noch die als Muslim. Es dauert nicht mehr lang, bis sich die Brutalität des religiösen Fanatismus direkt vor seiner Haustür entlädt.

Was Geetanjali Shree erzählt, ist unabhängig von Ort und Zeit: Es lässt sich auf Nordirland, Israel oder auf die Zeit des Nationalsozialismus übertragen. Hass, der Nachbarschaften und Freundschaften zerstört, Liebe unmöglich macht, weil er Menschen unentrinnbar auf eine einzige Eigenschaft, einen einzigen Begriff reduziert. Ein Roman, der uns einen Blick in unser verführbares Inneres gewährt und gleichzeitig durch Poesie beschwichtigt. ANTJE STIEBITZ

Geetanjali Shree: „Unsere Stadt in jenem Jahr“. Aus dem Hindi übersetzt von André Penz. Draupadi Verlag, Heidelberg 2013. 224 Seiten, 18 Euro