Die Manuskripte sind noch da

ORTSTERMIN Vor einem Jahr erhoben sich in Mali die Islamisten. Timbuktu fürchtete um seine Bücherschätze – und begann eine mutige Rettungsaktion

Bücher haben Igoumo immer begleitet. Über Generationen sammelte seine Familie Manuskripte

AUS TIMBUKTU KATRIN GÄNSLER

Sidi Lamine Sidi Igoumo will aufstehen. Es ist etwas mühsam, bis er von seiner gewebten Matte an der Wand mit bröckelnder gelber Farbe hochkommt. Dann lässt er sich von seinem Sohn ein Schlüsselbund bringen und schließt die Tür zu einem der angrenzenden Räume auf. An den Wänden stehen Regale, in der Mitte ein großer Tisch, auf dem Bücher liegen. Eins nimmt er in die Hand. „Das ist 1807 geschrieben worden, und das hier“, er zeigt auf ein anderes, „stammt aus dem Jahr 1800“. Einen Moment lang schweigt er, blickt durch den Raum und sagt dann: „Meine Eltern haben mir wirklich einen wertvollen Schatz hinterlassen.“

Mit seiner Bibliothek ist Igoumo nicht allein. Viele der unscheinbaren einfachen Lehmhäuser in der Wüstenstadt im Nordosten Malis beherbergen Familienbibliotheken. Es ist ein Erbe, das bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Timbuktu galt damals als Zentrum der islamischen Gelehrsamkeit in Afrika. Zeitweilig sollen hier über 25.000 Studenten unterrichtet worden sein. In der Glanzzeit der Stadt entstanden unzählige wissenschaftliche Abhandlungen, zum Islam, auch zu Mathematik, Physik und Astronomie. Für diese Sammlungen ist Timbuktu heute weltberühmt – und Teil des Unesco-Weltkulturerbes. Aber es sind nicht nur Sammlungen. Es ist bis heute eine lebendige Wissenskultur, um die sich viele sorgten, als Anfang Mai 2012 islamistische Gruppen die Kontrolle im Norden Malis übernahmen.

Tatsächlich wurden nach ihrer Ankunft im Sommer vorigen Jahres mehrere Mausoleen niedergerissen. Im Januar brannte dann das Ahmed-Baba-Zentrum aus, wo die meisten Bibliotheksschätze Timbuktus versammelt sind. Das brachte weltweit und tagelang Schlagzeilen.Wie viele Schriften tatsächlich vernichtet wurden, wusste anfangs niemand. Die Telefonverbindungen funktionierten nur schlecht. Erst nach Tagen wurde klar, dass der Schaden nicht so groß war wie anfangs angenommen: 4.203 zerstörte Manuskripte, nicht Zehntausende.

Hilfe aus Südafrika

Auch Igoumo sorgte sich damals um seine Bibliothek. Bücher haben ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Über Generationen sammelte seine Familie alte Manuskripte. Irgendwann will er die Sammlung seinem Sohn übergeben, so wie es einst schon sein Vater tat. Viele Familien handhaben das so. Längst nicht alle der alten Schriften lagern in den großen, bekannten Bibliotheken, häufig sind sie in Privatbesitz. Und deshalb, so sagt Igoumo, stehen die wirklich wertvollen, sehr alten Schriften, auch gerade nicht mehr in seinem Regal. Mehr will der alte Mann nicht sagen. Sie befänden sich „an einem sicheren Ort“.

Ein paar Straßen weiter ist ein Ort, der früher vielen in Timbuktu als sicher galt: Das Ahmed-Baba-Zentrum, ein international finanziertes Institut zur Archivierung und Konservierung der alten Manuskripte von Timbuktu, 1973 eröffnet. Der Neubau mit vielen offenen Gängen, ganz anders als die verwinkelten Lehmhäuser, ist erst vor vier Jahren eingeweiht worden. Internationale Förderer wünschen sich, dass Timbuktus Privatsammlungen in solchen Zentren gesammelt und geschützt werden.

Doch im Eingangsbereich liegen leere Ledereinbände, Asche und Sand ist auf die leeren Buchschieber gerieselt. Dazwischen kniet Abdoulaye Cissé, derzeit der Leiter des Zentrums. Er tastet die leeren Hüllen im Eingangsbereich nicht an. Sie sollen daran erinnern, was sich seit dem 15. April 2012 zugetragen hat. Als damals die Islamisten nach Timbuktu kamen, ließen sie das Zentrum erst in Ruhe. Das änderte sich am 23. Januar, nachdem französische Truppen gelandet waren, um die Islamisten zu verjagen. „Sie kamen, um die Manuskripte zu verbrennen.“

Was die Brandstifter nicht wussten. Die meisten Buchschieber waren schon damals leer. „Dafür sind wir den Südafrikanern dankbar“, sagt Cissé. Seit Jahren gibt es an der Universität Kapstadt ein Forschungsprojekt zur Erhaltung der Schriften von Timbuktu. Viele befanden sich deshalb zur Begutachtung und Restauration in Südafrika. Ein anderer Teil lagerte außerdem im alten Teil des Ahmed-Baba-Zentrums. Den Rest schmuggelten die Bibliothekare während der Besatzungszeit aus der Stadt.

Wo die geretteten alten Schriften heute sind, will Cissé jedoch nicht erzählen. „Ein Teil ist noch hier, ein weiterer Teil in Bamako“, sagt er ausweichend. Dort sollen Kopien entstehen, die an verschiedenen Orten gelagert werden. Damit es keine weiteren Zerstörungen geben kann.

In der Bibliothek

Etwa 300.000 Manuskripte, so schätzen Experten, sollen in und um Timbuktu lagern. 2.404 Manuskripte gehören zur Bibliothek Igoumos. Die Fenster sind klein, die Räume nur spärlich möbliert. Obwohl das Thermometer draußen schon in den Morgenstunden auf mehr als 40 Grad steigt, ist es in dem alten Lehmhaus angenehm kühl.

Auf dem Tisch liegen vier braune, schwere Bücher. Sie sind in dunkelbraunem Leder eingebunden, haben viele Seiten, alle handbeschrieben, auf Arabisch. Sidi Lamine Sidi Igoumo sucht nach seiner Lesebrille. Das Lesen strengt ihn an. Es dringt zu wenig Tageslicht von außen hinein, Strom für die Glühbirne gibt es in Timbuktu nur abends zwischen 18 und 23 Uhr.

Nach ein paar Minuten legt er das Buch wieder zur Seite, schlägt es zu und und klopft mit dem Zeigefinger darauf. Auf seinem Gesicht macht sich ein Lächeln breit. „Dieses Buch habe ich geschrieben, gemeinsam mit meinem Bruder“, sagt der weißhaarige Mann. „Es ist eine Abhandlung über islamisches Recht.“