Willkommen in der befreiten Zone von Istanbul

TAKSIM Der ansonsten verkehrsreichste Platz der größten Stadt der Türkei gehört den Fußgängern. Tausende junger Leute tanzen, malen Plakate – und genießen ein Gemeinschafts- gefühl, das es so in diesem Land wohl noch nie gab

„Ich wollte sehen, hören und riechen, wie die Freiheit schmeckt“

ERGÜN IST 2.000 KILOMETER AUS DER STADT URFA ANGEREIST

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Den Unterschied zwischen zwei Welten erspürt man bei einer U-Bahn-Fahrt von einer Station zur nächsten. Am Fähranleger am Bosporus in Kabatas, wirkt Istanbul wie immer. Leute hetzen zur Fähre, suchen einen Bus, Autos stecken im Dauerstau. Einzig eine zerschlagene Werbetafel verweist darauf, dass es auch hier nachts anders zugehen kann.

Doch wer in Kabatas in die Metro steigt und eine Station weiter, am Taksim-Platz, wieder an die Oberfläche kommt, betritt eine andere Welt. Zwar gibt es auch dort Autos – aber nur noch als umgestürzte, ausgebrannte, zertrümmerte Schrotthaufen, die jetzt als Teil einer Barrikade genutzt werden, um alle Zufahrten zum Platz für die Polizei zu sperren. Der sonst verkehrsreichste Platz Istanbuls ist nur noch Fußgängern vorbehalten – ganz so, wie es die Stadtoberen aus der regierenden AK-Partei versprochen hatten, bevor sie an die Macht kamen.

Man hat den Taksim mit Hunderten Fahnen geschmückt, jedes linke Grüppchen wollte seinen Wimpel hinterlassen. Wo sonst Starbucks teuer schlechten Kaffee verkauft, ist jetzt ein Versorgungszentrum eingerichtet worden, wo jeder umsonst Wasser und belegte Brote bekommen kann, die von überallher gespendet wurden.

Auf den Stufen zum Gezi-Park, dort, wo vor zehn Tagen alles Begann, steht ein großer Stapel Reifen, der über und über mit Zetteln geschmückt ist: Botschaften von Demonstranten an die Regierung sind dort angesteckt wie: „Ich verkaufe Hefeteiggebäck. Ich lebe in Würde. Weg mit der Polizei“. Über den Eingang zum Park weht ein großes Transparant, auf dem steht: „Tayyip Istifa Kolektif“, übersetzt, das „Kollektiv für den Rücktritt von Tayyip“ – der Vornamen von Regierungschef Erdogan.

Willkommen in der befreiten Zone von Istanbul. Ergün steht staunend auf den Stufen zum Gezi-Park und schüttelt ungläubig den Kopf. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Das muss ein Traum sein, das gab es in der Türkei noch nie.“ Ergün ist von Beruf Augenarzt. Er ist erst am Morgen nach Istanbul gekommen – und zwar aus Urfa. Urfa, das ist die Stadt Abrahams, ganz im Südosten des Landes an der syrischen Grenze, 2.000 km von Istanbul entfernt.

„In Urfa“, sagt Ergün, „passiert nichts. Es gibt dort keine Demonstrationen. Die Stadt ist sehr konservativ.“ Deshalb hat er sich in seinem Krankenhaus freigenommen und ist nach Istanbul gekommen. „Ich bin Augenarzt. Vielleicht kann ich helfen. Aber ich wollte auch sehen, hören und riechen, wie die Freiheit schmeckt.“

Im Zentrum des Gezi-Parks, dort wo vor zehn Tagen die ersten noch kleinen Versammlungen der BesetzerInnen stattgefunden haben, ist jetzt ein Erste-Hilfe-Zentrum eingerichtet worden. Namenlose Ärzte wie Ergün bieten hier Hilfe an, Medikamente, die umliegende Apotheken gespendet haben, werden sortiert und so verpackt, dass sie am Abend, wenn es in anderen Teilen der Stadt wieder Polizeiangriffe gibt, schnell dorthin geschickt werden können.

Eine kleine Mauer neben der Sammelstelle wurde zur „Mauer der Hilfe“. Sie sieht aus wie der Schrein der Revolution. Dort stehen Flaschen mit einer Flüssigkeit, um sich das Tränengas aus den Augen zu waschen. Zitronen, selbstgebastelte Gasmasken und andere Souvenirs der letzten Tage.

Die Atmosphäre der Freiheit, die seit Sonntag vom Taksim-Platz ausgeht, lässt die Stimmung vibrieren. Vor allem Tausende junger Leute in der Millionenmetropole werden vom Taksim-Platz und Gezi-Park geradezu magnetisch angezogen. Sie wollen die neue Türkei anschauen, sie wollen tanzen, Plakate malen und ein Gemeinschaftsgefühl genießen, das es so, über alle Grenzen der verschiedenen Gruppen und Weltanschauungen der Republik Türkei, wohl noch nie gab.

Sicher, die meisten Besucher und Dauergäste im Gezi-Park sind säkulare Jugendliche, denen die Politik Erdogans schon länger die Luft abschnürt. Doch die Magie der „befreiten Zone“ wirkt weit darüber hinaus. Ein hoher AKP-Funktionär aus der Regierung gestand dem AKP-nahen Kolumnisten Mustafa Akyol, das er nur mit Mühe verhindern konnte, dass seine Töchter sich ebenfalls zum Gezi-Park aufmachten.

Die BesetzerInnen des Gezi-Parks werden in den türkischen Medien bestaunt wie Leute von einem anderen Stern. „Sie sind friedlich, sie sind tolerant und sie sind diszipliniert. Es gibt keine Betrunkenen, niemanden, der sich rücksichtslos benimmt“, berichtet ein staunender Reporter im Nachrichtensender NTV seinem Publikum.

Seit die Polizei am Samstagabend den Taksim-Platz, den Gezi-Park und die Umgebung im Zentrum völlig geräumt hat, gibt es hier keine Zwischenfälle mehr. Und seit Tayyip Erdogan sich am Montagmorgen zu einem viertägigen Staatsbesuch nach Nordafrika verabschiedet hat, wagt es auch niemand mehr in der Öffentlichkeit, die BesetzerInnen als „Chaoten“ oder gar als „Marodeure“ zu verunglimpfen, wie Erdogan es getan hat. Im Gegenteil, die Protestierenden aus dem Gezi-Park können sich vor UnterstützerInnen kaum mehr retten. Gestern bekannte gar der Vorstandschef einer der größten türkischen Banken, Ergun Özen, CEO der Garanti Bank: „Ich bin auch ein Marodeur. Ich war auch am Taksim-Platz.“

Der kurze Sommer der Anarchie bringt die schönsten Seiten der Leute zum Vorschein. Merjem und Aydin, vom Alter eher Schüler als Studenten, laufen mit einem großen Müllsack in der Hand durch die Menge und sammeln jeden Papierschnipsel vom Rasen auf. Sie sind aus einem Vorort Istanbuls, aus Gaziosmanpascha, von da, wo es Leute gibt, die noch nie das Meer gesehen haben. Sie haben sich in aller Frühe auf dem Weg gemacht, am Abend müssen sie wieder zurück. Niemand hat ihnen gesagt sie sollen Müll aufsammeln, sie sind von selbst auf die Idee gekommen. „Es ist toll hier“, sagt Merjem, und Aydin meint: „Ich hoffe, dass es noch lange so bleibt.“