Polizei stürmt Hochzeitsfeier

TÜRKEI Eine Party im Gezipark wird von Sicherheitskräften mit Knüppeln und Wasserwerfern aufgelöst. Frauen berichten von sexueller Belästigung in der U-Haft

Bei einer Umfrage büßt Erdogan im Vergleich zu Sommer 2012 9 Prozent ein

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es begann als wunderbare Party und endete unter dem Beschuss von Wasserwerfern und dem Einsatz von Polizeiknüppeln. Zwei junge Leute, die sich während der Gezipark-Proteste im Besetzercamp kennen und lieben gelernt hatten, wollten ihre Hochzeitsparty in eben jedem Park feiern.

Mit Freunden und Bekannten wurde getanzt und gelacht, das Brautpaar wie auch viele Gäste hatten sich mit Protest-Accessoires dekoriert. Die Braut unter dem Schleier zunächst eine Gasmaske und der Bräutigam einen roten Bauhelm, wie ihn viele als Schutz vor Polizeiknüppeln aufgesetzt hatten.

Doch als die Hochzeitsgesellschaft begann, die Parolen der Protestwochen anzustimmen, sah die am Rande des Parks stationierte Polizei dies als Grund, einzugreifen. Wie bei allen anderen Protestversuchen rund um den Gezipark und den Taksimplatz setzte die Polizei nach einer kurzer Aufforderung, den Ort zu räumen, Wasserwerfer und Tränengas ein. Die flüchtenden Hochzeitsgäste wurden bis in die Istiklal Caddesi, die angrenzende Fußgängerzone verfolgt, wo auch Tausende von Touristen und Spaziergängern den Wasserwerfern ausgeliefert waren.

Durch den massiven Polizeieinsatz waren der Taksimplatz und das angrenzende Vergnügungszentrum den gesamten Samstagabend nahezu unbegehbar. Passanten flüchteten in die Seitengassen und versuchten sich in Sicherheit zu bringen. Wieder gab es Verletzte und Festnahmen.

Wie Menschenrechtsorganisationen berichteten, sind von den Tausenden Festgenommenen in den vergangenen Wochen ungefähr 150 Leute nach wie vor in Haft. Die meisten Anklagen reichen vom Aufruf zu öffentlichem Aufruhr über Widerstand gegen die Staatsgewalt bis hin zu Mitgliedschaft oder Bildung einer terroristischen Organisation. Ein italienischer Fotograf, der fast zehn Tage im Gefängnis saß, wurde mit einer Anklage konfrontiert, in der die Staatsanwalt sieben Jahre Haft fordert. Viele Festnahmen erfolgten aber nicht unmittelbar bei Protestaktionen, sondern bei Polizeirazzien.

Etliche Frauen berichteten nach ihrer Freilassung, dass sie während ihrer Festnahmen und anschließenden U-Haft von Polizisten sexuell belästigt worden seien. So sagte die Vorsitzende der Architektenkammer Mücella Yapici, die mit elf anderen Vertretern der Taksim-Plattform verhaftet worden war, sie hätte sich nackt ausziehen müssen und sei in demütigender Weise begrapscht worden. Auch zwei linke Journalistinnen, Derya Oktan und Arzu Demir, berichteten von polizeilichen Übergriffen nach ihrer Festnahme.

Im Gegensatz zu der Hetzjagd auf Demonstranten kommen die Ermittlungen wegen des Todes von fünf Demonstranten nicht voran. Selbst im Falle des erschossenen Studenten Ethem Sarisülük in Ankara, wo der schießende Polizist auf einem Video klar zu erkennen ist, hat ein Gericht jetzt nur mit Mühe eine Anklage zugelassen, weil der Polizist sein „Recht auf Selbstverteidigung“ möglicherweise zu großzügig ausgelegt hat.

Nach einer neuen Umfrage im Hinblick auf das bevorstehende Wahljahr könnten die regierende AKP und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan für die Polizeieinsätze allerdings empfindlich abgestraft werden. Das renommierteste Meinungsforschungsinstitut der Türkei, Sonar, hat jetzt Zahlen veröffentlicht, wonach die AKP gegenüber ihrem besten Wert 2012 nun 9 Prozent verloren hat. Während Erdogan im Sommer 2012 noch auf 53 Prozent aller Wählerstimmen hoffen konnte, ist er jetzt auf 44 Prozent abgerutscht. Im kommenden Jahr werden im März Kommunalwahlen und im August Präsidentschaftswahlen stattfinden.

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