„Ein entscheidender Moment für Ägypten“

REAKTIONEN Die hohe Zahl der Toten zieht Appelle zur Mäßigung nach sich. Menschenrechtler sprechen von „krimineller Missachtung von Menschenleben“

WASHINGTON rtr/afp | Die USA haben Ägypten eindringlich vor einem Absturz ins Chaos gewarnt. Nach gewaltsamen Zusammenstößen mit Dutzenden von Toten rief US-Außenminister John Kerry die Führung in Kairo am Samstag dazu auf, das Land „vom Abgrund wegzuziehen“. „Das ist ein entscheidender Moment für Ägypten“, erklärte Kerry. Die Sicherheitskräfte müssten das Recht auf friedliche Proteste respektieren. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums telefonierte zudem Ressortchef Chuck Hagel mit dem ägyptischen Armeechef Abdel Fattah al-Sisi und forderte, weiteres Blutvergießen zu verhindern.

Die USA sind mit jährlich mehr als einer Milliarde Dollar Hilfe an das Land der wichtigste Partner Ägyptens. Sollte die Regierung sich entscheiden, die Entmachtung Mursis als Putsch zu bewerten, dürfte sie ihre Hilfe – von der ein Großteil Militärhilfe ist – nicht fortsetzen.

Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte die Gewalt und verlangte von den Sicherheitsbehörden, das Recht auf freie Rede und Versammlungsfreiheit zu akzeptieren. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton appellierte an alle Seiten, die Gewalt zu beenden.

Diese Reaktionen gehen dem türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nicht weit genug. Er warf der EU eine Doppelmoral vor. „Was ist mit der EU geschehen und den europäischen Werten?“, sagte Erdogan in einer Rede vor Geschäftsleuten in Istanbul. „Wo sind die, die sonst umhergehen und Unterricht in Demokratie erteilen?“ Erdogan ist ein Unterstützer Mursis und hatte zuletzt massive Kritik auf sich gezogen wegen des harten Vorgehens türkischer Sicherheitskräfte gegen oppositionelle Demonstranten.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) verurteilte die Gewalt in Ägypten gegen Anhänger Mursis scharf. Angesichts der möglicherweise teils gezielten Tötung von 72 Menschen in Kairo warf sie den Behörden am Sonntag die „kriminelle Missachtung von Menschenleben“ vor. Da vielen der Opfer in Brust oder Kopf geschossen wurde, gingen befragte Ärzte davon aus, dass einige der Toten offenbar gezielt erschossen wurden, erklärte HRW.

Die Toten wiesen auf die „schockierende Bereitschaft der Polizei und einiger Politiker hin, die Gewalt gegen Mursi-Anhänger zu verstärken“, erklärte der HRW-Experte Nadim Houry. „Es ist fast unvorstellbar, dass es so viele Tote gab, ohne den Willen zu töten oder zumindest die kriminelle Missachtung von Menschenleben.“ HRW rief die Übergangsregierung auf, den Einsatz scharfer Munition zu stoppen, wenn diese nicht notwendig zum Schutz von Menschenleben sei.