Integration: Migrantinnen, dringend gesucht

Frauen aus Einwanderer-Familien sind in Sportvereinen eine Seltenheit. Um daran etwas zu ändern, bietet der Bremer Landessportbund Übungsleiter-Kurse an.

Möchte ihre guten Erfahrungen aus dem Sportverein weitergeben: Melek Orta. Bild: Michael Bahlo

BREMEN taz | „Du kannst Kindern nicht sagen, ’eure Trainerin kommt später‘. Die müssen gleich wissen, dass du die heute vertrittst, weil sie verhindert ist, sonst hören die die ganze Stunde nicht auf zu fragen und zu gucken.“ Melek Orta weiß das, weil sie selbst als Schülerin Volleyball im Sportverein gespielt hat. Die Frau hingegen, der sie gerade den Tipp gegeben hat, hat keine Vereinserfahrung – wie viele andere der 20 Frauen, die vergangene Woche in der Halle des Bremer TV Walle von 1875 den ersten Teil ihres Lehrgangs zur lizensierten Übungsleiterin im Sport absolvierten.

Die jüngste Teilnehmerin ist 16, die älteste 56, fast alle haben „Migrationshintergrund“. Seit 1996 bietet der Bremer Landessportbund für diese Zielgruppe die Übungsleiterinnen-Ausbildung an. Weil sie vom Senat der Stadt bezuschusst wird, kostet sie statt 540 Euro nur 130 Euro. Und weil viele der Frauen Kinder haben, wird sie in den Ferien angeboten. Der zweite Block ist über Ostern geplant, dazwischen liegen zehn Hospitations-Stunden in Sportvereinen.

Das Ziel ist, dass die Frauen selbst einmal Gruppen in Vereinen übernehmen. „Aber das muss nicht unbedingt sofort passieren“, sagt Astrid Touray vom Landessportbund. „Vielleicht fangen sie erstmal im Moscheeverein oder bei der Volkshochschule an und finden später den Weg in den Verein – am besten mit der ganzen Gruppe!“ Ein Erfolg sei auch, wenn eine Frau über den Kurs zu mehr Selbstvertrauen finde, sich traue, eine Gruppe zu leiten.

Nur ein Fünftel der Mädchen mit Migrationshintergrund treibt organisiert Sport, beliebt sind dabei Fußball und Kampfsport. Dabei wünschen sich viele Mädchen und junge Frauen mehr Möglichkeiten, sportlich aktiv zu sein: insbesondere Selbstverteidigungskurse sind gefragt.

Noch niedriger ist die Quote bei erwachsenen Frauen mit Migrationshintergrund: dort sind nur ein bis drei Prozent Mitglied in einem Sportverein.

Der Deutsche Sportbund will sein Angebot stärker an den Interessen von Mädchen und Frauen aus sozial schwachen Milieus und mit Zuwanderungsgeschichte ausrichten.

Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich ehrenamtlich im Sport engagieren, hat sich seit 2007 nahezu verdoppelt.

Um sie dahin zu bringen, macht die Lehrgangsleiterin Antje Büssenschütte verschiedene Übungen mit den Frauen. Am vierten Kurstag etwa sollten sie sich vorstellen, sie müssten kurzfristig eine andere Übungsleiterin vertreten. Erst diskutieren sie die Frage, welche Informationen man den KursteilnehmerInnen über den Verbleib ihrer Gruppenleiterin weitergibt. Dann geht es um den Umgang mit Nachrichten wie: „Da sind sechs Kinder, die immer Probleme machen.“ Während einige gleich zu Beginn klar machen wollen, dass undiszipliniertes Verhalten mit zehn Liegestützen bestraft wird, stellen andere die pädagogische Eignung von jemanden infrage, der so über Kinder urteilt.

„Ich kann die doch ganz anders wahrnehmen!“, sagt Lilia Vorobeva. Die 45-Jährige hat in Russland zwölf Jahre als Grundschullehrerin gearbeitet und muss in Deutschland von vorne anfangen. Sie hat eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Weil sie in diesem Jahr keinen Platz für ihr vorgeschriebenes Anerkennungspraktikum fand, überbrückt sie die Zeit unter anderem mit dem Sport-Kurs. Was sie genau damit anfangen will, wisse sie noch nicht, sagt sie. „Ich mache einfach gerne Sport und gucke mir jetzt in den Vereinen alles an!“

Währenddessen tobt der Nachwuchs der Frauen lärmend mit Fußbällen durch die Halle. Die Frau, die die sechs Kinder zwischen elf Monaten und zehn Jahren betreut, ist krank geworden. Die Gruppe bleibt gelassen. Nur wenn es allzu laut wird, schreitet eine der Frauen ein. „Die bringt so schnell nichts aus der Ruhe“, sagt Kursleiterin Antje Büssenschütte, Ernährungswissenschaftlerin und Leichtathletin. Eigentlich, sagt die 54-Jährige, habe sie gar keine Zeit für den Kurs, aber es mache einfach zu viel Spaß. Sie ist beeindruckt von der Lebensweisheit der Frauen und ihrer Bereitschaft, sich gegenseitig zu unterstützen und mit Problemen wie fehlender Kinderbetreuung pragmatisch umzugehen.

Und für viele der Frauen bedeutet der Übungsleiterschein viel mehr als eine Lizenz zum Sportunterricht. Die vereinserfahrene Melek Orta will auf diesem Weg Mädchen, wie sie selbst einmal eines war, eine Aufgabe geben, sie „von der Straße holen“, wie sie sagt. „Ich komme selbst aus einem sozialen Brennpunkt in Gröpelingen“, erzählt die 29-Jährige, während die anderen Aufwärmübungen machen. Bis sie in der siebten Klasse von einer Lehrerin angesprochen wurde, ob sie nicht Volleyball spielen wolle, habe sie herumgehangen, sagt sie. Jetzt will sie beim türkischen Fußball-Klub Vatan Sport die Damensparte aufbauen, mit Mädchen ab 14 Jahren beginnen. „Damit die etwas mit sich anzufangen wissen.“

Ein ganz konkretes Ziel vor Augen hat auch Melahat Öztürk. Die 44-jährige Mutter von drei Kindern heißt eigentlich anders, will aber anonym bleiben. Sie schwimmt für ihr Leben gern, kann dies aber aus religiösen Gründen derzeit nur einmal die Woche tun. Dafür fährt sie am Montagmorgen nach Vegesack in den Bremer Norden. Ab halb neun gehört dort das kleine Grohner Bad muslimischen Frauen. Anderthalb Stunden haben sie, in denen sie ganz unter sich sind. Es fehle seit der Schließung des Goosebads in ihrem Stadtteil Walle nicht nur an Bädern, in denen muslimische Frauen schwimmen können, die Sorge haben, Bekleidungsregeln zu verletzen. Melahat Öztürk will auch dafür sorgen, dass es wenigstens eine weitere Frau gibt, die berechtigt ist, als Leiterin für die Gruppe zu fungieren. Dafür braucht sie nicht nur die Lizenz als Übungsleiterin, sondern auch noch das Bronze-Schwimmabzeichen, für das sie trainiert.

Und dann ist da noch Natalia Neumann. Sie war in Russland erfolgreiche Spitzensportlerin. Doch dann wanderte sie im Jahr 2000 nach Deutschland aus, bekam drei Kinder und hatte seitdem keine Arbeit: Ihr Lehrerinnen-Diplom wird hier nicht anerkannt. „Ich hatte keine Kraft, es war wie ein Gefängnis“, erzählt die 38-Jährige in vorsichtig gesprochenem Deutsch, „immer nur zu Hause, zu Hause, zu Hause.“ Ihr Jüngster sei im Sommer in die Schule gekommen. „Jetzt bin ich frei.“ Endlich konnte sie einen Sprachkurs machen, in dem sie so viel Deutsch lernte, dass sie sich damit nach draußen traute. Und: Ihre Sprachlehrerin ließ nicht locker, fragte immer wieder nach, was sie machen will. „Was kannst du? Was macht dir Spaß?“, habe diese gefragt. Bis sie sich daran erinnerte, wie gerne sie sich bewegt, dass sie ihr Leben lang verschiedene Sportarten betrieben hat. Während sie das erzählt, fliegt plötzlich ein Ball aus dem Nichts auf sie zu. Als hätte sie einen siebten Sinn dafür, fängt sie ihn auf. Was sie genau nach diesem Kurs damit anfangen will, weiß sie noch nicht. Aber das sei nicht entscheidend. Sondern: „Ich habe etwas für mich gefunden.“

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