Der Völkermord am Rande Europas

ETHNISCHE SÄUBERUNGEN Das Osmanische Reich war ein multiethnischer Staat, der unter dem Ansturm des Nationalismus zerbröselte. Der Drang zum homogenen Nationalstaat führt bis heute zu Vertreibung und Tod

Was im Ersten Weltkrieg begann, wurde von Hitler und Stalin mit brutalsten Mitteln fortgesetzt

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es sind nur zwei sehr verschachtelte Sätze. Aber im Nachhinein betrachtet stellen sie sich als eine der größten Hypotheken des Ersten Weltkriegs heraus: „Während des Kriegszustands sind die Oberbefehlshaber der Armeen, Armeekorps und Divisionen befugt und verpflichtet, unverzüglich mit militärischen Streitkräften die schärfsten Strafen zu verhängen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken, sobald sie feststellen, dass die Bevölkerung in irgendeiner Weise den Befehlen der Regierung und den Maßnahmen zur Verteidigung des Landes und zum Schutze von Ruhe und Ordnung Widerstand leistet und bewaffneten Aufruhr unternimmt.“

Der zweite Satz ist etwas kürzer, hat aber ungleich schlimmere Konsequenzen: „Die Oberbefehlshaber der Armeen, der selbstständigen Armeekorps und Divisionen können bei vorliegen militärischer Erfordernisse oder bei Feststellung von Spionage und Landesverrat die Bevölkerung der Dörfer und kleinen Städte einzeln oder gesammelt nach anderen Orten verschicken und sie dort ansiedeln lassen.“

Diese beiden Sätze bilden den Kern des Deportationsgesetzes, das im 1915 als Notverordnung im Osmanischen Reich erlassen wurde. Diese Verordnung war die juristische verbrämte Legitimation für eine ethnische Säuberung, die es in dieser Größenordnung noch nicht gegeben hatte und der mehr als eine Million Armenier zum Opfer fielen.

Umsiedlungen und Deportationen waren kein neues Phänomen. Europäische Großmächte hatten sie bis dahin aber vor allem in ihren Kolonien angewandt. Erst mit der Eroberung des Kaukasus durch das russische Imperium Mitte der 19. Jahrhunderts machte sich das Phänomen der ethnischen Säuberung auch an der Peripherie Europas breit. 1861 ließ der damalige Zar Alexander II. den Tscherkessen, deren unterschiedliche Stämme den westlichen Kaukasus seit Jahrhunderten besiedelten, drei Optionen: Entweder sie siedeln in die von Kosaken beherrschte Tiefebene am Kasan um. Oder sie flüchten nach Süden in das Osmanische Reich zu flüchten. Oder sie werden von der russischen Armee niedergemacht.

Die meisten Tscherkessen kämpften – die weit überlegene russische Armee brannte sämtliche Dörfer der Bergbewohner nieder und tötete deren Bewohner. Dieser erste vergessene Völkermord am Rande Europas, von dem nach neuesten Forschungen rund 600.000 Menschen betroffen waren, wirkt sich bis heute aus. Er ist ein Ausgangspunkt für die Kriege in Tschetschenien und andere Aufständen im Kaukasus, mit denen Putins Russland heute noch zu kämpfen hat.

Systematisch wurden ethnischer Vertreibung parallel zum Aufstieg des ethnisch und religiös definierten Nationalstaats in Europa – und dem Zerfall des multiethnischen und multireligiösen Osmanischen Reichs und Habsburger Reichs. Das Osmanische Reich umfasste Mitte des 19. Jahrhunderts große Teil des Balkans, Anatolien, Mesopotamien, Syrien, Palästina, die arabische Halbinsel und Nordafrika. Nur rund ein Viertel der Untertanen waren ethnische Türken, die Mehrzahl dagegen Araber, Kurden, Griechen, Armenier und die diversen Nationalitäten des Balkans, von Serben über Makedoniern, Bulgaren, Bosniaken bis zu Albanern. Dieses Völkergemisch wurde durch das Primat der osmanischen Dynastie zusammengehalten, dem Islam als Staatsreligion und einer weitgehenden Autonomie für die christlichen Millets, wie sie im osmanischen Verwaltungsaufbau genannt wurden.

Unter dem Ansturm des europäischen Nationalismus ribbelte sich dieses Gebilde auf wie ein Strumpf mit einer Laufmasche. Zuerst Serben, dann die Griechen, später die Makedonier, Bulgaren und Wallachen kämpften für ihre nationale Unabhängigkeit. Da diese Kriege sowohl unter ethnischen wie religiösen Vorzeichen geführt wurden, war für die Muslime auf dem Balkan kein Platz mehr. Bei den beiden Balkankriegen unmittelbar vor der Ersten Weltkrieg 1912/13 wurden 250.000 Muslime getötet, hunderttausende Vertrieben.

Die Rechnung dafür zahlten in gewisser Weise die Armenier und, in abgeschwächter Form, die Griechen in Anatolien. Spätestens seit den Balkankriegen misstrauten die Türken den Griechen und Armeniern in Anatolien. Entscheidend aber war: Auch die Türken zielten nun auf einen ethnischen und religiösen Nationalstaat, in dem die christliche Minderheit zu einem unerwünschten Fremdkörper wurde. Zwar wurde die Massendeportationen der armenischen Zivilisten in die syrische Wüste erst nach einem bewaffneten armenischen Aufstand in der nahe der russischen Grenze gelegenen Stadt Van im April 1915 in Szene gesetzt. Doch die Disposition für den Völkermord war bereits vorhanden.

Völkerrechtlich sanktioniert wurde das Mittel der Deportation im zweiten Friedensvertrag mit der Türkei 1923 in Lausanne. Die türkische Unabhängigkeitsbewegung hatte nach dem ersten Diktatfrieden 1920 einen Krieg gegen die griechische Besatzung Westanatoliens geführt. Der Sieg der türkischen Truppen legte die Grundlage für den neuen Nationalstaat, in dem Griechen nun keinen Platz mehr hatten.

Im Friedensvertrag von Lausanne wurde festgelegt, dass 1,2 Millionen Griechen von Anatolien nach Griechenland umsiedeln und im Gegenzug eine halbe Million muslimischer Türken die ägäischen Inseln und Westthrakien verlassen mussten. Dieser sogenannte Bevölkerungsaustausch war der Schlussstrich unter der ethnischen und religiösen Homogenisierung von Griechenland und der Türkei.

In der Folge wurde es für die Minderheiten immer schwieriger. Die Griechen in Istanbul, die vom Bevölkerungsaustausch ausgenommen worden waren, wurden, genauso wie die letzten Muslime in Nordgriechenland und auf Rhodos, zu einer Anomalie im homogenen Volkskörper.

Doch das war ja nicht nur in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs so. Der homogene Nationalstaat galt nach dem Ende des Osmanischen und Habsburger Reichs als der anzustrebende europäische Normalfall. Was im Ersten Weltkrieg begann, wurde im Zweiten Weltkrieg von Hitler und Stalin mit brutalsten Mitteln fortgesetzt. Der Rassenwahn der Nazis führte nicht nur zur Vernichtung der europäischen Juden. Die Nazis wollten auch ganze Landstriche in Polen, der Ukraine und Südrussland von den slawischen Untermenschen räumen, damit reinrassige Germanen dort siedeln könnten.

Im Gegenzug ließ Stalin ganze Völker deportieren, von denen er befürchtete, sie könnten mit den Deutschen kollaborieren. Angefangen von den Wolgadeutschen, ging es dann vor allem gegen Krimtataren und die Völker im Kaukasus, die seit den russischen Vernichtungskriegen im 19. Jahrhundert als unsichere Untertanen galten.

Die vorläufig letzten Opfer der Idee eines homogenen Nationalstaats in Europa gab es dort, wo der Nationalismus seine mörderische Konsequenz auch zuerst entfaltete: auf dem Balkan. Noch immer ist es auf dem Balkan nicht endgültig gelungen, ethnisch und religiös homogene Nationalstaaten zu schaffen. Noch immer sterben deshalb Menschen.

Die Idee, nach der Katastrophe des Ersten und dem entgrenzten Morden des Zweiten Weltkriegs mit der Europäischen Union den nationalen Wahn hinter sich zu lassen, ist noch längst nicht realisiert.