Das Viva-Video und die NSU-Terroristen

RECHTSEXTREMISMUS Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurden vor dem Anschlag in der Keupstraße mit Überwachungskameras gefilmt. Dennoch kam die Polizei nicht auf die richtige Spur

HAMBURG taz | Eine Minute, vielleicht auch zwei: Am 9. Juni 2004 retten sie Yavuz S. das Leben. „Ich bin an dem Fahrrad mit der Bombe vorbeigegangen, ich habe einen der Täter mit Basecap angeschaut“, sagt er. Kaum war er in dem Reisebüro seiner Familie in der Keupstraße, detonierte die Bombe, bestückt mit rund 800 Nägeln. 22 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. „Ich hatte gleich doppelt Glück“, sagt er. Vor dem Reisebüro war ein Kleinlaster einer Bäckerei geparkt. Über 30 Löcher und Dellen verursachten die Nägel an dem Fahrzeug.

Im NSU-Verfahren verhandelt ab Montag das Oberlandesgericht München erstmals den Kölner Nagelbombenanschlag. Mehrere Verhandlungswochen sind dafür eingeplant. „Die enge Zeittaktung der Befragung der Opfer legt nahe, dass sie alleine über ihre Verletzungen und Folgen befragt werden sollen“, kritisiert Timo Glatz, Pressesprecher der Initiative „Keupstraße ist überall“. Im Saal A 101 wollen Betroffene aber auch über die Ermittlungen der Polizei sprechen. „Wir wurden zu Tätern gemacht, nicht als Opfer eines rechtsextremen Anschlages wahrgenommen“, sagt Yavuz Sami S.

Kurz vor 16 Uhr sollen vor elf Jahren Mundlos und Böhnhardt, die beiden „Uwes“ von Zschäpe, die Bombe mit mindestens 5,5 Kilogramm Schwarzpulver in der Straße mit vielen türkischen Geschäften ferngezündet haben. Im Verfahren deckte Nebenkläger-Anwalt Yavuz Narin auf, dass Videomaterial von den Ermittlern nur „lückenhaft beachtet“ worden war. Beim stundenlangen Sichten von Ermittlungsakten fand Narin Bildmaterial von Überwachungskameras des Musiksenders Viva in der Nähe des Tatorts. Die Bilder dokumentieren das Vorgehen der Täter ab 14.18 Uhr. Um 15.10 Uhr passiert Mundlos, ein Damenrad schiebend, den Eingang von Viva Richtung Keupstraße. Auf dem Gepäckträger des Rads befindet sich ein Hartschalenkoffer, in dem die Nagelbombe versteckt ist. Zuvor ist Böhnhardt zu sehen, wie er zwei Mountainbikes durch die Straße schiebt – die Fahrräder, mit denen die beiden nach der Zündung der Bombe flüchteten. Gegen 15.50 Uhr sind beide wieder auf der Straße mit den Fahrrädern im Video. Sechs Minuten später wird die Nagelbombe per Fernsteuerung gezündet.

Auch eine Analyse von LKA-Profilern zählt nicht

„Schon am Tag des Attentats begannen sie alleine gegen uns zu ermitteln“, sagt Yavuz S. Um 17.04 Uhr setzte das Lagezentrum der Polizei eine Lagemeldung ab: „btr.: terroristische gewaltkriminalität“. 41 Minuten später wird die Meldung korrigiert: Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund lägen nicht vor. Bis heute will sich keine der handelnden Personen erinnern können, warum bei einer Nagelbombe in einer Straße, in der überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund leben, eine solche Motivlage so schnell ausgeschlossen wurde. Keiner mag sich auch erinnern, wer die Korrektur veranlasst hat.

Kurz darauf spricht Innenminister Otto Schily von einem möglichen „kriminellen Milieu“, das für die Tat in Frage komme: ein Ermittlungsansatz, dem ausschließlich gefolgt wurde. Die Aussage einer Zeugin, die einen der Täter sah und angab, einen Deutschen nicht ausschließen zu können, änderte daran ebenso wenig wie eine Analyse von LKA-Profilern, es könnten „Deutsche“ sein, die „wahrscheinlich schon polizeilich in Erscheinung getreten sind, evtl. wegen fremdenfeindlicher Straftaten“.

In der Keupstraße wurden die Opfer des NSU zu Opfern der Ermittler. Die Polizei übte großen Druck auf sie und ihr Umfeld aus, ihre Angehörigen zu beschuldigen. Diese Praxis führte dazu, dass das Leid der Opfer verstärkt und in die Länge gezogen wurde. ANDREAS SPEIT