Debatte Große Koalition: Denn sie wissen, was sie tun

Union und SPD streiten sich über Nichtigkeiten. Statt sich um wirklich Wichtiges zu kümmern, betreiben sie Politiksimulation. Warum?

Schon die Unterzeichnung des Koalitionsvertrages war zum Lachen. Bild: dpa

Eine seltsame Gereiztheit wird mehr und mehr zum Markenzeichen dieser Großen Koalition. Alle innenpolitischen Themen, die CDU, CSU und SPD gerade planen, werden von Gezeter, Indiskretionen und Profilierungsversuchen begleitet. Ob es nun um ein Einwanderungsgesetz, die Abschaffung des Solidarzuschlags oder eine kleine Erhöhung des Kindergelds geht, die drei Partner beharken sich wie Konkurrenten in einem Wahlkampf, statt seriös zusammenzuarbeiten. Was ist da los?

Die Koalition, die sich nach ihrem Start betont sachlich gab, scheint in einen Zustand emotionaler Dauererregung zu rutschen. Da wäre zum Beispiel der hübsche Streit über den Wegfall des Solidaritätszuschlags, mit dem die Deutschen seit 1991 den Aufbau Ost finanzieren. Diese Diskussion steht für alles Mögliche, vor allem aber für Irrwitz.

Die CDU hat sich eingemauert

Ein Bündnis, das bis 2017 regiert, fetzt sich wegen einer Steuerreform, die ab 2020 greifen soll. Nochmal zum Mitlesen: ab zwei-tau-send-zwan-zig. Bis zu diesem Datum wird eine andere Bundesregierung in Berlin schon drei Jahre regiert haben, die vielleicht auch die ein oder andere steuerpolitische Meinung vertritt. Darauf muss man sogar hoffen, denn gerade die Union agiert bei Finanzthemen hochgradig irrational. Sie hat sich so in ihrem prinzipiellen Nein zu Steuererhöhungen eingemauert, dass selbst einkommensneutrale Lösungen mit ihr nicht mehr zu machen sind.

Oder das Einwanderungsgesetz. Die CSU hält es für überflüssig, die SPD für unverzichtbar, die CDU weiß nicht genau, was sie meint. Viele Experten, selbst die parteipolitisch gefärbten, sind sich einig, dass die aktuellen Regeln, mit denen Hochqualifizierte aus Nicht-EU-Staaten eingebürgert werden, gut funktionieren. Ein Punktesystem à la Kanada, wie es der SPD vorschwebt, würde kaum andere Kriterien für Einwanderung definieren, als es die existierende EU-Blue-Card oder das Aufenthaltsgesetz tun. Es geht also vor allem um politische PR.

Die einen wollen mit einem neuen Gesetz ein Willkommenssignal senden, auch wenn sich faktisch wenig ändern würde. Die anderen möchten, Pegida sei dank, unbedingt den Eindruck vermeiden, noch mehr vermeintlich nutzlose Ausländer nach Deutschland zu locken. Das eine – die Zuwanderung von Spezialisten – und das andere – die grundgesetzlich garantierte Aufnahme von politisch Verfolgten – haben zwar nichts miteinander zu tun. Aber hey, was kümmert das die Parteien, wenn sich die eigenen Wähler mit dem Schlagwort „Einwanderung“ so herrlich emotionalisieren lassen?

Schließlich sendet selbst ein gut gemeintes Gesetz eine klassische Double-bind-Botschaft: Klar, wir heißen Migranten willkommen. Aber wir wollen nur die Guten. Diejenigen, bei denen ihr Nutzen nicht unmittelbar auf der Hand liegt, bleiben draußen.

Eine Tüte Bio-Hirsekringel

Und beim Kindergeld? Hier könnte man ernsthaft besprechen, welche Eltern besonders schnell in Armut abrutschen, etwa Alleinerziehende. Man könnte verhandeln, wer wirklich Geld braucht. Stattdessen streiten Union und SPD vor allem darüber, ob ordentlich verdienende Mittelschichtsfamilien 6 oder 10 Euro mehr im Monat bekommen. Die politische Differenz beträgt satte 4 Euro. Da ist glatt eine Tüte Bio-Hirsekringel drin.

Übrig bleibt bei all dem der Eindruck von großem Unernst. Die Koalition tut so, als bearbeite sie innenpolitische Großbaustellen, in Wirklichkeit bläst sie Nichtigkeiten auf. In der Psychologie spricht man bei einem solchen Verhalten gerne von Übersprungshandlungen.

Die SPD hat in dieser Koalition alle wichtigen Projekte erledigt, die sie sich vorgenommen hatte. Mindestlohn, Rente mit 63, Mietpreisbremse, Frauenquote. Viel davon ist richtig, eines gar historisch: Der Mindestlohn ist die größte sozialpolitische Reform seit der Agenda 2010. Viel mehr ist aus SPD-Sicht nicht zu wollen, dennoch liegen die Genossen in Umfragen wie festgetackert bei 24 Prozent. Dass Sigmar Gabriel da heimlich ins Kissen weint, kann man verstehen.

CDU und CSU haben auch alle ihre Anliegen verwirklicht, allein deshalb, weil sie eigentlich keine hatten, wenn man von der Mütterrente und der Betonierung der Steuergesetzgebung mal absieht. Wer aber keine wichtigen Pläne mehr hat, der sucht sich seine Aufgaben eben, so gut er kann. Der verlegt sich auf Politiksimulation, statt wirklich Politik zu machen.

Aufgaben gibt es genug

Natürlich spielt bei all dem auch eine Rolle, dass die Innenpolitik unter einem enormen Bedeutungsverlust leidet. Wenn ein Krieg in der Ukraine tobt, der Islamische Staat im Irak mordet und Griechenland erneut vor der Pleite steht, schrumpft jedes inländische Thema zum Luxusproblem. Die Kanzlerin dominiert die Außenpolitik inzwischen absolut, Frank-Walter Steinmeier darf wacker zuarbeiten. Auch dieses Ungleichgewicht führt dazu, dass manche Spitzenkräfte von CSU und SPD im Moment zu übersteigerter Selbstdarstellung neigen. Sie wollen eben auch mal vorkommen.

Die schlecht getarnte Ratlosigkeit der GroKo ist nicht lustig, sie ist sehr ernst. Denn wer nichts tut, ignoriert die wahren Probleme. Und zu tun gäbe es in der Innenpolitik einiges.

Natürlich könnte sich die Koalition eine ehrliche Rentenreform überlegen, die darauf reagiert, dass große Teile der heutigen Arbeitnehmerschaft die Altersarmut droht. Oder eine engagierte Energiewende, die die Bundesrepublik weltweit als klimaschutzpolitische Avantgarde positioniert. Oder eine Pflegereform, die die Alterung der Gesellschaft auffängt. Auch Tatenlosigkeit hat Konsequenzen. CDU, CSU und SPD schauen Entwicklungen zu, die die ganze Gesellschaft bedrohen. Sie muten den Wählern die Wirklichkeit nicht zu, sie setzen auf Feel-good-Politik. Aber sind wir tatsächlich so unmündig?

Eine Große Koalition – der Gedanke fehlt ja in keinem Leitartikel – wäre per definitionem das richtige Bündnis für große Aufgaben, weil es nicht nur breite Teile der Bevölkerung repräsentiert, sondern auch starke Verbände und Gewerkschaften im Rücken hat. Diese Koalition muss sich trauen, über die Spiegelstriche des Koalitionsvertrages hinauszudenken. Im Moment sieht es leider nicht danach aus.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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