Syrische Kriegsflüchtlinge: An der Grenze zum Leben

1,2 Millionen Syrer sind bereits im Libanon, einem Land mit vier Millionen Einwohnern. Rein kommen bloß noch Waisen, Behinderte, Schwerkranke.

Ein Flüchtlingslager in Madaba, in der Nähe von Amman. Bild: Reuters

BEIRUT/MASNAA taz | Normalerweise leitet Jack Jendo eine kleine Internetfirma, aber daran ist nicht zu denken in diesen Tagen. Es ist Samstagfrüh in Sad El Bauchrieh, einem Vorort von Beirut, und Jendo wippt nervös auf einem schweren, geschnitzten Sessel herum. Wie er mit dem einen Handy telefoniert und gleichzeitig mit dem zweiten SMS tippt, sieht er im Empfangssaal des Erzbischofs wie Besuch aus der Zukunft aus. Im Gemeindehaus der Assyrer, einer religiösen Minderheit im Nahen Osten, halten schwere Vorhänge das Tageslicht von den Ölgemälden fern, aus denen Kleriker streng ins Heute schauen.

Am 23. Februar verschleppte der „Islamische Staat“ 220 Assyrer in der Provinz Hassaka in Syrien, 3.000 konnten fliehen. Verstreut sitzen sie nun fest im syrischen Chaos, im Libanon wären sie sicher, doch die Grenze ist zu. Jendo, 31, Gemeindeaktivist, trägt als Einziger grauen Anzug. Als eine Art freiwilliger Logistikbeauftragter hockt er bei den kirchlichen Würdenträgern in schwarzer Soutane oder weißem Kollar um den Hals. Vierzig Familien hat Jendo bislang aus Syrien geholt, aber froh ist er nicht: 700 warten noch. Es riecht nach Frisörgeschäft, die Geistlichen haben Herrenduft aufgelegt. Die Frage, die sie beschäftigt: Wie retten wir auch die übrigen Brüder aus Syrien?

Die Assyrer haben das große Privileg, dass dies für sie nur eine Kostenfrage ist. Als letztes Nachbarland hat der Libanon Anfang Januar seine Grenzen für syrische Flüchtlinge geschlossen. 1,2 Millionen waren da schon in dem Land, das nur gut vier Millionen Einwohner hat. Herein dürfen jetzt nur noch Ausnahmefälle: Geschäftsleute, Waisen, Behinderte, Schwerkranke. Nach dem Angriff auf seine Glaubensbrüder sind Jendo und der Bischof zu Libanons Innenminister gegangen. „Wir haben gesagt: Für die Assyrer muss es auch eine Ausnahme geben.“

Mit Erfolg: Wenn die assyrische Gemeinde finanziell bürgt, dürfen sie kommen. Aber schon heute weiß die kleine assyrische Gemeinde nicht mehr, wie sie die Flüchtlinge versorgen soll. Jendo muss für sie assyrische Familien in Beirut suchen, die die Flüchtlinge aufnehmen, er muss per Telefon Namen, Passnummern, Geburtsdaten erfragen und sie an die Oberste Sicherheitsbehörde schicken. Wenn alles gut läuft, faxt die irgendwann die Einreisegenehmigung an die Grenzposten. Heute läuft es nicht gut. „Die Grenzer haben eine Familie nur zum Teil herübergelassen“, sagt Jendo. „Der Vater und ein Bruder mussten in Syrien bleiben.“

Grenzübergang Masnaa, auf der Straße zwischen Beirut und Damaskus. Die Sonne blendet, doch es ist kalt. Unten im Bekaatal blühen die ersten Bäume, oben auf den Bergen liegt Schnee, dahinter liegt der Krieg, mit Chlorgas, Fassbomben, Luftangriffen. Der Schlagbaum ist jetzt offen. Soldaten in Flecktarn und Fellkapuzen kontrollieren die Autos aus Syrien. Manche sind fast leer, auf anderen türmt sich das Gepäck bis hoch über das Dach. Die Autos, die die Soldaten durchwinken, fahren im Schritttempo weiter. Einige halten am Straßenrand an, die Insassen falten das graue Pappkärtchen mit der Einreisebescheinigung sorgfältig zusammen. Wer es verliert, kann nicht nachweisen, wie lange er schon im Land ist, und gilt als illegal. In einem weißen Honda sitzen zwei Schwestern, sie sind geschminkt, als wollten sie am Abend in Beirut einen Club besuchen. Sie stammen aus Idlib in Nordsyrien.

Umarmungen, Küsse, Tränen

„Wir wollten nicht weg, aber es wurde zu gefährlich.“ Zehn Tage später wird die Stadt der islamistischen Nusrafront in die Hände fallen. Wo sie jetzt bleiben sollen, wissen sie nicht. Das geht vielen so. Taxifahrer und Guides suchen nach Kunden, andere erwarten Verwandte, ein Mann hat eine Rose mitgebracht, es gibt Umarmungen, Küsse, Tränen.

Nur Ausnahmefälle kommen noch durch. Für das Gros der 6,5 Millionen Flüchtlinge in Syrien hat sich mit dem Libanon die letzte Tür geschlossen. Im Niemandsland zwischen dem syrischen und dem libanesischen Grenzposten hocken drei Frauen, sie tragen Gewänder und schwarze Kopftücher. Bei ihnen sind ein Baby und drei Jungs, der größte trägt eine schwarze Lederjacke, die ihm fast bis zu den Knien reicht. Seit dem Morgen sitzen sie hier zwischen ihren Taschen und Tüten, versperren den Weg für die Autos, die um sie herumkurven und hupen. Irgendwo haben sie einen Rollstuhl abgestaubt, er dient ihnen jetzt als Gepäckwagen. Von Zeit zu Zeit schieben sie ihn zu den libanesischen Soldaten. Es sieht aus, als wollten sie um Geld betteln. Die Soldaten schütteln den Kopf und lassen sie nicht vorbei.

Der Libanon ist ein Land ohne Regierung, ein hochkomplizierter Kompromiss zwischen Sunniten, Schiiten und Christen, bis heute vom Bürgerkrieg gezeichnet. Seit Jahrzehnten ist er im Krieg mit Israel, seit Kurzem erklärtes Eroberungsziel der Dschihadisten. Das Wort „Flüchtlinge“ hat im Libanon echte Triggerqualitäten. Die 400.000 Palästinenser haben das politische Gleichgewicht belastet. Heute dürfen die Syrer nur „Binnenvertriebene“ heißen und es darf auch keine Camps geben, sondern nur „informelle Siedlungen“. Ganze Landstriche sind übersät mit verstreuten Hütten aus Brettern und Planen, die Bewohner oft traumatisiert und zur Untätigkeit verdammt. 150 Dollar per Scheckkarte bekommen Flüchtlingsfamilien im Monat. Was, wenn die Hilfswerke irgendwann nicht mehr zahlen?

Mieten und Lebensmittelpreise steigen, die Infrastruktur ist völlig überlastet. Zehn Prozent der Flüchtlinge, heißt es, sympathisieren mit dem IS – ob das stimmt, weiß niemand. Viele Libanesen fürchten sich vor einer Invasion der Dschihadisten, manche geben ihrem Land nicht mehr als zwei Jahre bis zum Zerfall. Dass es noch keine Pogrome gab, grenzt an ein Wunder. So hat der Libanon sich entschlossen, die Zahl der Flüchtlinge zu drücken. Nicht nur die Grenzen sind zu, auch Hilfsorganisationen haben es schwer, Visa für ihre Mitarbeiter zu bekommen – der Ausbau der Hilfsprogramme soll offensichtlich erschwert werden.

Der verzweifelte Diplomat

„Das Land muss sich darauf einstellen, dass die Menschen erstmal bleiben“, sagt Jean Nicolas Beuze und wirkt etwas verzweifelt, denn er weiß, dass genau das die größte Angst der Libanesen ist. Der Koordinator des UN-Flüchtlingswerks ist noch jung, mit seinen Lackschuhen, lila Socken und der Hornbrille ähnelt er eher einem modebewussten Kreativwirtschaftler als einem Diplomaten. Er sitzt im Dachgeschoss eines Hochhauses im Beiruter Stadtteil Raouché, durchs Fenster glitzert die Levante, in den umliegenden Gebäuden klaffen noch die Granatenkrater aus dem Bürgerkrieg.

Unten hat der UNHCR mit Containern ein Registrierungszentrum aufgetürmt, im letzten Jahr kamen oft mehrere Tausend Menschen am Tag. Jetzt bewachen die Sicherheitsleute die leeren Bänke hinter dicken Betonmauern. „Die Grenze ist de facto geschlossen“, sagt Beuze. Und die, die es aus dem Krieg heraus geschafft haben, bekommen Druck. Die Aufenthaltserlaubnis kostet alle sechs Monate 200 Dollar für jeden über 15-Jährigen. Und sie bekommt nur, wer einen Mietvertrag nachweist und verspricht, nicht zu arbeiten.

„Immer mehr Flüchtlinge leben deshalb illegal im Land“, sagt Beuze. Noch schiebt der Libanon die Flüchtlinge nicht in den Krieg zurück. Aber das muss nicht so bleiben. Beuze hat schon in vielen Konflikten gearbeitet, aber dieser hier ist vertrackt. „Aus Angst vor Entdeckung bewegen viele Flüchtlinge sich kaum noch. Selbst die Schwangerschaftsuntersuchung meiden manche Frauen.“

Rund 40.000 Flüchtlingskinder sind inzwischen im Libanon geboren. Die wenigsten Familien können sich die teure Prozedur leisten, ein Geburtszertifikat zu beantragen, so Beuze. „Und mit einem staatenlosen Kind können sie nach Kriegsende nicht nach Syrien zurück.“ Im Libanon leben viele Flüchtlinge in Hütten oder überfüllten Wohnungen, 30 Quadratmeter für drei Familien sind keine Seltenheit. 300.000 Kinder besuchen keine Schule.

Wenn alle Syrien verlassen, wäre das Werk des IS vollendet

Vier Jahre währt der Konflikt, die Lage der Menschen sei „kritisch“, sagt Michael Frischmuth, der sich um die Projekte der Diakonie Katastrophenhilfe in Syrien kümmert. „Gleichzeitig haben die aufnehmenden Staaten längst ihre Belastungsgrenze überschritten.“ Die grüne EU-Abgeordnete Barbara Lochbihler fordert, dass Europa dem Libanon wenigstens einen Teil seiner Last abnimmt. „Nur Deutschland und Schweden sind zu ernstzunehmenden Resettlement-Projekten bereit. Aber selbst wir könnten noch viel mehr Menschen aufnehmen“, sagt sie.

Ist das eine Lösung? Die assyrischen Priester in ihrem altehrwürdigen Besprechungssaal schütteln den Kopf: „Es gibt 300.000 Christen im Irak, eine Million in Syrien, neun Millionen in Ägypten. Wollt ihr die alle nehmen?“, fragt einer. „Diaspora kann eine Lösung für Individuen sein, aber nicht für Völker.“ Wenn alle Syrien verlassen, wäre das Werk des IS vollendet, sagt er. „Die Muslime müssen den Islam vom IS befreien. Und dann müssen wir über Versöhnung sprechen.“

Doch einstweilen bleibt ihnen wenig, als ihre Brüder aus der Schusslinie zu bringen. Am Sonntag ist Jack Jenbos Stimmung düster. Die Familie ist am Morgen vereint in Beirut angekommen, Hunderte andere aber sind noch drüben. „Die Muslime hier sehen es kritisch, dass für uns eine Ausnahme gemacht wird“, sagt Jenbo. „Sie fragen: Warum retten wir nur die Assyrer, aber die anderen nicht?“

Die Reisekosten trug die Fraktion Die Grünen/EFA im EU-Parlament und die Diakonie Katastrophenhilfe

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