Unterricht und Religion in Frankreich: In die Schule mit Allahs Segen

Die muslimische Mittelschule in Lille bildet die Ausnahme im Land des Laizismus. Nun rebellierte ein Lehrer gegen den Geist der Schule.

Das Lycée Averroès in Lille: Kopftuch ist erlaubt, die Kantine halal Bild: Rudolf Balmer

LILLE taz | Es gibt diesen Satz, den Soufiane Zitouni zu seinen Schülern gesagt hat. „Ich frage mich, ob nicht viele Muslime ein Problem mit dem Humor haben.“ Er bereut den Satz nicht. Zitouni wiederholte ihn gar für eine Kolumne in der Tageszeitung Libération, die den Titel trug „Auch Mohammed ist Charlie“ und kurz nach dem mörderischen Anschlag auf die französische Satirezeitschrift im Januar erschien. Seither ist Zitouni jedoch das Lachen vergangen. „In den zwanzig Jahren meiner Lehrertätigkeit habe ich noch nie derartige antisemitische Äußerungen von Schülern zu hören bekommen.“ Seine Stelle als Philosophielehrer an der muslimischen Mittelschule Averroès in Lille hat er daraufhin gekündigt.

Über Nacht sah sich Zitouni an seiner Schule geächtet. „Mein Pro-Charlie-Text ist mehrmals vom Anschlagbrett im Lehrerzimmer entfernt worden. Ein ehemaliger Kollege meinte, ich hätte mir viele Feinde gemacht und solle in Zukunft auf der Straße hinter mich schauen.“ War das eine Drohung? Zitouni demonstriert eine Gelassenheit, die man ihm nicht ganz abnimmt.

Die Ereignisse liegen ein paar Wochen zurück. „Ich nehme nichts zurück“, sagt der 48-Jährige im Café, er klingt gereizt. Er lebt in Douai, etwa 20 Minuten Bahnfahrt von Lille entfernt, und wartet noch auf seine neue Stelle. „Das Attentat gegen Charlie Hebdo hat mich sehr getroffen. Ein Freund von mir, Philippe Lançon, ist bei dem Anschlag schwer verletzt worden. Ich war es ihm schuldig, öffentlich zu reagieren.“

Soufiane Zitouni ist Muslim, und die Schule in Lille, wo er gearbeitet hat, eine konfessionelle Privatschule – eine Besonderheit im laizistischen Frankreich. Sich mit einer satirischen, manchmal blasphemischen Zeitung und mit den häufig angegriffenen Juden zu solidarisieren, ist für Zitouni selbstverständlich. Und ganz im Sinne von Averroès, einem muslimischen Philosophen, der im 12. Jahrhundert in Cordoba lehrte und dessen Namen seine ehemalige Schule stolz im Titel trägt. „Er lehrte, dass zwischen der Wahrheit der Philosophie und des Korans kein Widerspruch besteht. Er wollte Wissenschaft und Religion verbinden.“ Mit dem Aufklärer Averroès habe der Geist dieser Schule fast nichts gemein, sagt Zitouni. In der Schulbibliothek finde sich kein einziges Buch von ihm oder über ihn. „Dafür habe ich dort Prediger gehört, die sagen, der Schleier sei ein religiöses Gebot.“

„Wissen Sie, was ich wirklich glaube?“

Schulleiter Hassane Oufker weist diesen Vorwurf zurück. Er ist ein jovialer Mann in den Vierzigern, mit einem lässig um den Hals geschlungenen Schal. Als gälte es, Zitounis Vorwurf des mangelnden Humors zu widerlegen, macht er gern Scherze. „Was geht im Innern eines Menschen vor? Wissen Sie, was ich wirklich glaube, ob ich überhaupt ein Muslim bin? Wussten Sie, dass es in der Vergangenheit sogar Imame gab, die Juden waren?“ Oufker steht, sagt er, für Glaubensfreiheit ein und beteuert, dass in seiner Schule ausschließlich Toleranz gepredigt wird. „Gerade darum bin ich so schockiert über das Vorgehen des Kollegen Zitouni. Es geht nicht nur um unseren guten Ruf. Es ist ein Angriff auf eine Erfolgsgeschichte des Islam in Frankreich.“ Alle in der Schule – Lehrer wie Schüler – hätten an der Schweigeminute für die Terroropfer bei Charlie Hebdo teilgenommen.

Die Eingänge der muslimischen Mittelschule im südlichen Außenquartier von Lille wirken diskret wie das Tor eines der zahlreichen Werkgelände in der Umgebung. Nur auf der weiß gestrichenen Backsteinfassade beim Haupteingang steht stolz der Name „Lycée Averroès“ und darunter: „Lycée d’Enseignement Privé Musulman“. Die Schule ist eine von nur zwei staatlich anerkannten und mit öffentlichen Mitteln finanzierten muslimischen Mittelschulen in ganz Frankreich.

Anders als bei staatlichen Schulen weht über dem Eingang keine Trikolore, prangt dort auch nicht die republikanische Devise „Liberté – Egalité – Fraternité“. Aber etwas mehr als die Hälfte der Schülerinnen tragen ein Kopftuch oder einen Schleier. Dieses äußere Zeichen ihres Glaubens müssen sie hier nicht ablegen, wie dies in einer öffentlichen Schule vom Gesetz vorgeschrieben wird.

Mit einem herzlichen „Bonjour et bienvenue“ oder mit „Salam Aleikoum“, wenn es sich um Familien aus Nordafrika handelt, werden an einem Samstagmorgen die Besucher am „Tag der offenen Tür“ willkommen geheißen. Die Eltern haben ihre Kinder für das kommende Schuljahr bereits seit November angemeldet. Der Andrang ist größer als die Zahl der Plätze. Dieses private Lycée, das die Schüler drei Jahre lang auf das Baccalauréat, das französische Abitur, vorbereitet, gilt über Lille hinaus bei muslimischen Familien aus der Mittelschicht als zukünftige Eliteschule. In den letzten beiden Jahren haben alle Absolventen der vier Abschlussklassen das Baccalauréat-Examen bestanden. Das lässt selbst eingefleischte Anhänger des öffentlichen Schulsystems aufhorchen.

Schwarz-rot-gold im Klassenzimmer

Daneben ist den Eltern und Schülern die Toleranz gegenüber ihrer Religion wichtig. Das bestätigt eine mit einem Niqab verschleierte Mutter: „Die Kantine ist garantiert halal, die Mädchen dürfen auch im Unterricht den Schleier anbehalten, die Schule lehrt Arabisch, hat einen Gebetssaal und gibt Kurse in muslimischer Ethik.“ Der Religionsunterricht ist wie das Gebet und der Schleier fakultativ. Doch wo verläuft die Grenze zwischen „fakultativ“ und „obligatorisch“?

„Die Schule mischt sich in diese Fragen nicht ein“, sagt Nadia Belhadef kategorisch. Sie ist Deutschlehrerin und Deutschland-Fan. Auf dem Tisch ihres mit schwarzen, roten und goldgelben Ballons dekorierten Klassenzimmers liegen Broschüren und Gadgets des Goethe-Instituts aus. Belhadef trägt einen Kopfschleier und für den Besuchstag eine Sportjacke des deutschen Fußballteams. Auf Bitte der Lehrerin bestätigt Schülerin Myriam: „Jedes Mädchen entscheidet selbst, ob es den Schleier trägt oder nicht. Ich selber hatte schon länger darüber nachgedacht. Doch erst vor wenigen Monaten, nach einer gemeinsamen Reise nach Köln, habe ich mich dafür entschieden“, sagt die 16-Jährige fröhlich.

Ob das Vorbild der Lehrerin dabei nicht doch eine Rolle spielt? Nadia Belhadef will das nicht kommentieren. Die Lehrerin spricht Deutsch mit französischem Akzent. Zu Zitouni sagt sie nur: „Das hat uns geschadet.“ Die Rolle des Verteidigers übernimmt der rothaarige Vizedirektor Eric Dufour. Er sieht aus wie ein typischer nordfranzösischer „Ch’ti“. Laut Zitouni ist er zum Islam konvertiert, er diene als bloßes Aushängeschild. Dufour kontert sehr aggressiv und bezeichnet den Exkollegen als „Verräter“. Er vermutet hinter dessen „absurden“ Anschuldigungen „persönliche und psychologische Probleme“.

Umstrittene externe Dozenten

Zitouni rührt empört in seinem Kaffee, weil seine Opposition als krank gescholten wird. „Die Direktion ist doppelzüngig. Sie hat für alles eine geglättete Version für die Medien, intern im Lycée fährt sie eine ganz andere Linie. Glauben Sie, wir hätten so viele antijüdische Dinge von den Schülern zu hören bekommen, wenn dies nicht von den Erwachsenen in ihrer Umgebung geäußert worden wäre?“

Im Fach „Muslimische Ethik“, einer Art – fakultativem – Religionsunterricht, würden die Jugendlichen im Sinne einer „islamistischen Bewegung mit politischen Zielen“ beeinflusst, sagt Zitouni und führt dafür externe Dozenten wie die umstrittenen Prediger Tariq und Hani Ramadan an, die offiziell von der Schule eingeladen worden seien. Für den Philosophielehrer laufen hinter den Kulissen alle Fäden bei der Union des Organisations Islamiques de France (UOIF) zusammen, einem der großen muslimischen Verbände in Frankreich. „Deren Verbindungen zu den Muslimbrüdern sind bekannt“, sagt Zitouni mit einem fast triumphierenden Lächeln.

Seine Behauptung kann er leicht belegen, denn der Gründer des Lycée und Vorsitzende des Trägervereins ist Amar Lasfar. Dieser ist nicht nur der Imam der benachbarten Moschee al Imane, sondern auch Präsident der UOIF, die wegen ihrer Nähe zur ägyptischen Muslimbruderschaft als fundamentalistisch gilt. Sie ist umstritten, aber eine legale Organisation.

Am Tag der offenen Tür kommt auch Lasfar in diese Schule, die er gegründet hat, weil mehrere muslimische Mädchen in der Region wegen des Kopftuchverbots Ärger bekommen hatten. Er trägt einen grauen Anzug, ist nicht als Imam gekommen. Doch er ist hier die unbestrittene Autorität. „Ich bin Muslim in der Moschee, aber ein weltlicher Bürger auf der Straße“, lautet seine Devise. Sie soll es auch seiner Schule erlauben, im Unterricht die Regeln der weltlichen Republik zu respektieren und gleichzeitig die Jugendlichen im Sinne des Korans zu erziehen.

Wieviel Einfluss hat der Trägerverein?

Fundamentalismus? Antisemitismus? Den Dschihad kleinreden? All das weist Lasfar weit von sich. Im Gegenteil, seiner Meinung nach trägt der UOIF eher zur Prävention gegen die Radikalisierung junger Muslime bei. „Wir haben vielleicht bei einigen Terroristen keinen Erfolg gehabt, was aber ist mit den Hunderttausenden jungen Menschen, die brave Bürger geworden sind?“, fragt er.

Auch Direktor Oufker weiß, dass im Streit über Zitouni und seine Schule einiges auf dem Spiel steht. Es geht um die Zulassung (und somit die teilweise staatliche Finanzierung) weiterer von der UOIF geplanten islamischen Schulen. „Wir machen von einer Freiheit Gebrauch, die in der Verfassung verankert ist“, sagt er. Beim Thema UOIF wird er ernst. Ob jemand in der Schule Mitglied der UOIF, einer anderen Organisation oder überhaupt Muslim sei, spiele für ihn keine Rolle. „Wir haben uns nichts vorzuwerfen, das hat auch der Bericht einer Inspektion belegt.“

Oufker verschweigt dabei, dass die staatlichen Inspektoren den Einfluss von Lasfars Trägerverein infrage stellen und fordern: „Der Platz und der Status des Religiösen in der Schule muss geklärt werden.“

Das ist der entscheidende Punkt in einer Republik, in der die strikte Trennung von Religion und Staat im Unterricht seit mehr als hundert Jahren im Grundgesetz steht.

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