„Kein Platz für uns“

AUFBRUCH Walter Frankenstein hat als Jude versteckt in Berlin überlebt. Als er sich danach mit einem Nazi die Wohnung teilen sollte, ging er auf die Suche nach einer neuen Heimat

Jahrgang 1924, wuchs im westpreußischen Flatow und in Berlin auf. Nach dem Krieg arbeitete er in Israel als Maurer, später ließ er sich in Schweden zum Ingenieur ausbilden. Heute wohnt er in Stockholm. Über das Leben seiner Familie berichtet das Buch „Nicht mit uns“ von Klaus Hillenbrand (Jüdischer Verlag, 2008).

INTERVIEW KLAUS HILLENBRAND

taz: Herr Frankenstein, welche Erinnerungen verbinden Sie mit dem Tag Ihrer Befreiung?

Walter Frankenstein: Das war der 27. April 1945. Wir, meine Frau und unsere beiden kleinen Kinder, hatten mehr als zwei Jahre lang als Juden versteckt in Deutschland überlebt. Die letzten Tage verbrachten wir als angeblich ausgebombte Zivilisten in einem Bunker der Berliner U-Bahn. Als wir den ersten sowjetischen Soldaten in diesem Bunker sahen, habe ich ihn umarmt. Wir hatten überlebt. Es war nur Freude an diesem Tag.

Wenn wir auf die Zeit vor der Befreiung zurückblicken: Wie groß war die Hilfe von Deutschen während Ihrer Zeit in diversen Verstecken?

Ohne diese Deutschen hätten wir nicht überlebt. Diesen Menschen sind wir unendlich große Dankbarkeit schuldig. Wir sind 1943 ohne Geld und Papiere untergetaucht, wir hatten auch keine größeren Kontakte. Die bauten sich erst später durch den christlichen Stiefvater meiner Frau Leonie auf. Es gab Hunderte Schwierigkeiten. Wir haben manchmal tagelang gehungert. Aber wir sind durchgekommen.

Die Helfer waren freilich nur eine kleine Minderheit unter den Deutschen. Wie war Ihr Bild der Deutschen 1945? Konnten Sie sich vorstellen, zu bleiben?

Wir hatten ja auf Tuchfühlung mit den Deutschen gelebt. Nach der Befreiung wurde uns rasch klar, dass Hitler und die Nazis nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden waren. Wir hatten Erlebnisse, die uns zeigten, dass wir in diesem Deutschland nicht leben konnten.

Was für Vorfälle nach der Befreiung meinen Sie?

Wir hatten eine Wohnung in Berlin-Neukölln zugewiesen bekommen. Am Revers trugen wir ein blau-weißes Bändchen, weil wir uns von den anderen Berlinern unterscheiden wollten. Es gab schräge Blicke, Bemerkungen, dass wir ja eigentlich hätten weg sein müssen. Einmal, in der vollen U-Bahn, sagte eine Frau: „Na ja, jetzt sind sie wieder da.“ Da hat meine Frau sie mit dem Regenschirm angegriffen.

War Ihnen etwas aus dem früheren Leben übrig geblieben?

Nichts. Wir hatten überhaupt nichts. Das Einzige, was ich hatte retten können, war eine Blechdose mit Familienfotos.

Sie wollten nach Palästina auswandern, wo zwei Ihrer Brüder als einzige Verwandte überlebt hatten. Gab es Schwierigkeiten?

Erst einmal wurde im Juli 1945 Berlin unter den Alliierten aufgeteilt. Wir landeten im amerikanischen Sektor. In dem Augenblick, als die Amerikaner den Stadtteil übernahmen, meldete sich auch der ehemalige Besitzer der Wohnung und wollte diese zurückhaben. Wir wussten, dass dieser Mann ein Nazi war, denn wir hatten in der Wohnung eine Uniform und eine Pistole gefunden. Da hieß es im Rathaus Neukölln, wir sollten die Wohnung mit diesem Mann teilen. Wir sollten also mit unseren Mördern zusammenwohnen. Meine Frau hat sich dagegen gewehrt und der Plan wurde fallen gelassen. Aber alleine der Versuch bewies uns, dass in Deutschland kein Platz für uns war.

Wie ist es Ihnen gelungen, Deutschland zu verlassen?

Wir haben Kontakt mit der Jüdischen Brigade in der britischen Armee bekommen. Die waren daran beteiligt, eine Organisation zur illegalen Reise nach Palästina aufzubauen – es durften legal ja nur 1.500 Juden im Monat dort einreisen. Hunderttausende Überlebende aus Osteuropa und den KZ stauten sich in Deutschland.

Ihre Frau durfte Ende 1945 legal mit den Kindern einreisen.

Ja, mit Hilfe jüdischer Hilfsorganisationen. Ich sollte sechs Wochen später nachkommen. Ich fuhr zunächst mit den Zug nach München, von dort hat man mich nach Greifenberg am Ammersee gebracht. Dort gab es eine ehemalige BdM-Schule, in der wir uns eingerichtet hatten. Wir waren dort 40 oder 45 Leute, darunter nur drei deutsche Juden. Ich blieb dort viele Monate lang. Es war eine Art Kibbuz. Ich war der Küchenchef.

Wann konnten Sie Deutschland verlassen?

Erst im Juli 1946. Wir sind gemeinsam nach Marseille gefahren. Das war ein frisierter UN-Transport. Dort standen Juden aus Palästina zur Hilfe bereit. Die schickten mich in den Hafen, um dort Schiffe für die illegale Einwanderung auszurüsten. Erst im Oktober 1946 kam ich an Bord eines kleinen rostigen Küstendampfers. Das war die „Latrun“. Sie war für 75 Passagiere gebaut. Wir waren aber 1.252 Männer, Frauen und Kinder.

War das der Weg in die Freiheit?

Wir wurden von den Briten entdeckt. Als wir in die Hoheitszone Palästinas einfuhren, wurde das Schiff geentert. Im Hafen von Haifa hat man uns auf ein Schiff nach Zypern gebracht. Dort saßen wir wieder hinter Stacheldraht. Wir erhielten von den Engländern Lebensmittel und wir versorgten uns selbst. Wir lebten in britischen Tropenzelten.

Wann kamen Sie nach Palästina?

Im Mai 1947. Ich kam allerdings zwei Monate lang wieder in ein Lager. Es hieß, ich sei ein führender Kommunist, was aber nicht stimmte. Ich durfte meine Familie wiedersehen, aber zwischen uns stand der Stacheldrahtzaun. Erst am 17. Juli kam ich zu meiner Familie. Bald danach kam der Bürgerkrieg mit den Arabern. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen. Eine halbe Stunde später musste ich schon als Soldat zur Front gegen die Ägypter, die uns angriffen.

Sie sind mit Ihrer Familie ab den 1960er Jahren, nach Ihrer Emigration nach Schweden, wieder nach Deutschland zu Besuch gefahren. Hatten Sie damals Furcht vor der Konfrontation mit den Deutschen?

Um Menschen in unserem Alter machten wir einen großen Bogen. Wir sprachen nur Schwedisch miteinander, um als Ausländer betrachtet zu werden. Man konnte ja nicht wissen, was die Leute früher gemacht hatten.

Was zog Sie in die frühere Heimat?

Man kommt zu seinem Ursprung zurück. Wir wollten Theater besuchen, Bücher kaufen. Die Sprache, die einem als Kind als Lied zum Einschlafen mitgegeben wird, bleibt.

Sie besuchen nun regelmäßig die Bundesrepublik, sprechen vor Schulklassen über Ihre Verfolgung. Wie ist heute Ihr Bild von den Deutschen?

Ich spreche heute mit Deutschen, die den Krieg nicht erlebt haben. Ich komme, um den Deutschen zu erzählen, wie wertvoll es ist, in einer Demokratie zu leben, und wie furchtbar eine Diktatur ist. Ich versuche ihnen beizubringen, dass sie selbst denken sollen. Dann kann man sie nicht mehr manipulieren. Denn solche Menschen, die selbstständig gedacht haben, waren es auch, die uns haben überleben lassen – unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Denkt selbst und helft Menschen in Not. Dabei spielt es keine Rolle, ob das nun Muslime, Juden oder Christen sind.